Eindrücke vom Bibliothekskongress Leipzig 2019: »Bibliotheken verändern«
vom 18.–21. März 2019
Einmal jährlich kommt die deutschsprachige Bibliothekswelt zusammen. Alle drei Jahre in Leipzig. Unter den mehr als 4.000 Gästen waren auch zwei aus der Erlanger Stadtbibliothek vor Ort: die Leiterin der Kinder- und Jugendbibliothek Christine Keßler und ich. Bei Vorträgen und Gesprächen haben wir Impulse für die Bibliothek und unsere Arbeit mitgenommen.
Bibliotheken bieten von jeher Zugang zu Informationen und Medien. Im Rahmen des gesellschaftlichen und medialen Wandels erweitert sich der Fokus auf ihre soziale Rolle. Bibliotheken werden politischer und das Berufsbild befindet sich im Wandel. Das waren meiner Empfindung nach die großen Themen des Kongresses. Doch was heißt das konkret?
Bibliothek als Ort gelebter Demokratie
Öffentliche Bibliotheken sind die kommunalen Wohnzimmer (oder Marktplätze?): Öffentliche Orte, die durch einen niedrigschwelligen Zugang allen Bürger*innen ermöglichen, selbstbestimmt ihre eigenen Interessen zu verfolgen. Neu eröffnete oder umgebaute Bibliotheken wie zum Beispiel in Köln Kalk werden stärker und länger besucht als zuvor. Warum? Weil sie ein Ort zum Wohlfühlen sind und die Begegnung fördern, weil sie als Open Library auch nach der Arbeit, Schule oder Kita geöffnet haben und weil sich Menschen dort vielfältig beschäftigen können: gemütlich Zeitungen studieren und Kaffee trinken, neue Techniken ausprobieren, Lernen, Lesen, Musikhören oder Spielen. Ein Treffpunkt für jung und alt. Ein Ort der Teilhabe. Bibliotheken fördern das bürgerschaftliche Engagement, indem sie auf die Menschen zugehen und sie dazu einladen, die Räume der Bibliothek aktiv zu bespielen. So entstehen aus der Bürgerschaft heraus Kultur-, Bildungs- und Integrationsangebote von und für die Menschen vor Ort.
Bibliotheken zeigen Haltung
“Bibliotheken als öffentliche Einrichtungen sehen sich aktuell verstärkt in einer besonders widersprüchlichen Lage: Es scheinen sich einerseits ein ‘Neutralitätsgebot’ und eine Verpflichtung zur ‘Informationsfreiheit’ gegenüberzustehen mit einem bewusst eingeforderten Bekenntnis zu einer aktiv pluralistisch-demokratischen Rolle, die sich auch offen gegen alle Tendenzen aufstellt, die diese Grundausrichtung des politischen Systems der Bundesrepublik gefährden“ (Ben Kaden, 2018). Lest dazu die LIBREAS-Ausgabe zum Thema Neutralität – Bibliothek zwischen Pluralität und Propaganda. Dort findet ihr auch den Beitrag “Zur Unmöglichkeit eines neutralen Bibliotheksangebots” unserer Blogautorin Katharina.
Die Frage „Wie neutral können wir sein?“ bewegt die Bibliothekswelt und wurde demzufolge auch auf dem Kongress diskutiert. In meiner Wahrnehmung haben ungewohnt viele eine politisch aktivere Haltung eingefordert. Aber was heißt „politisches Handeln“ konkret? In Nürnberg führen Kommunalpolitiker durch die Bibliothek, in Zukunft auch AFD-Politiker? Wie gehen wir mit rechter oder allgemein „extremer“ Literatur um? Eine wirklich schwierige Frage, auf die Bibliotheksleiter*innen unterschiedliche Antworten geben. Einen guten Überblick zu den verschiedenen Positionen gibt der taz-Artikel „Finger weg oder anschaffen?“ von Jean-Philipp Baeck. Demokratie ist Diskurs. Dazu gehört auch, sich mit anderen Meinungen auseinanderzusetzen. Petra Köpping, Sächsische Staatsministerin für Gleichstellung und Integration, sieht die Bibliothek als demokratischen Ort, an dem persönliche Begegnung möglich ist. Öffentliche Bibliotheken wirken immer auch im politischen Raum. Bibliotheksleiter*innen müssen wissen, was in ihrer Gemeinde passiert und beispielsweise an den Gemeinderatssitzungen teilnehmen. Hans-Christoph Hobohm schlussfolgert aus den Ergebnissen des Forschungsprojektes “ALMPUB” zur Rolle von Bibliotheken für Demokratie und Gemeinwohl: „Wir dürfen nicht davon ausgehen, dass wir neutral sind.“
Berufsbild im Zeichen des Fachkräftemangels und Generationswechsels
In den vergangenen Jahren ist es schwerer geworden, geeignetes Personal für Öffentliche Bibliotheken zu finden. Dabei steht der große Generationswechsel erst noch bevor. Der Fachkräftemangel ist ein drängendes Thema, welches auf dem Bibliothekskongress in Leipzig in zahlreichen Panels thematisiert wurde. Der Beruf wandelt sich, die Anforderungen werden höher. Neben Informationsmanager*innen sollen Bibliothekar*innen von heute auch Eventmanager*innen und Pädagog*innen sein und immer die neuesten Technologien beherrschen. Sie üben oft anspruchsvollere und vielfältigere Tätigkeiten als früher bei gleichbleibend niedriger Bezahlung aus. Ist das attraktiv für den beruflichen Nachwuchs? Vielleicht liegt die Lösung auch nicht darin, das bibliothekarische Berufsbild immer mehr „anzureichern“. Vielleicht arbeiten in der Bibliothek der Zukunft viel diversere Teams mit unterschiedlichen Professionen und Erfahrungshorizonten. „Denkt breiter – auch in der Ausbildung”, mag man den jungen Menschen ans Herz legen. Überlegt euch gut, ob eine reine bibliothekarische Bachelor/Master-Ausbildung erstrebenswert ist oder ob es nicht bereichernder sein könnte, nach dem Bachelor oder berufsbegleitend ein Masterstudium in einem anderen Fach zu absolvieren. Der umgekehrte Weg (Fachstudium und anschließender bibliothekarischer Master) ist im wissenschaftlichen Bibliotheksbereich schon lange üblich.
Wo bleiben die kleinen Bibliotheken?
Die schönen Leuchttürme – da waren sie wieder: Auf dem Bibliothekskongress präsentierte Stararchitektin Francine Houben phänomenale Bibliotheksbauten. Bibliotheksdirektor*innen stellten tolle Projekte vor. All dies hat leider wenig mit der Realität der vielen kleinen Bibliotheken zu tun. Sie kämpfen mit Etatkürzungen, mangelnder technischer Ausstattung und Personalknappheit und benötigen dringend mehr Unterstützung. Dennoch leisten sie oft mit ihren begrenzten Ressourcen Großartiges. Sehr gefreut habe ich mich deshalb auch über die Auszeichnung der Stadtbibliothek Greven als „Zukunftsgestalter 2019“ für ihr Projekt Make-IT, durch das Kinder spielerisch für Robotik und Programmieren begeistert werden.
Lesen? Leider ungenügend.
Bei aller Technologiebegeisterung dürfen wir nicht vergessen, dass die Leseförderung als Kernaufgabe der Öffentlichen Bibliotheken wichtiger ist als je zuvor. Denn die Ergebnisse der IGLU-Studie sind alarmierend. Kinder bekommen seltener vorgelesen. Jedes fünfte Grundschulkind hat Probleme beim Lesen. Die Kinderbuchautorin Kirsten Boie will das nicht einfach hinnehmen und startete deshalb die Petition Jedes Kind muss lesen lernen! Damit Kinder Leseglück empfinden können, müssen sie zunächst richtig lesen können. Und hier sind Bibliotheken – gemeinsam mit den Schulen – gefragt, die Kinder und Eltern bestmöglich zu unterstützen.
Das und noch viel mehr
Um alles Interessante mitnehmen zu können, hätte ich mich klonen müssen. 🙂
Über einen Austausch freue ich mich!
Marlene
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