Mein Lesetipp: Zupf dir ein Wölkchen

Findet ihr auch, dass Gedichte meistens zu lang und irgendwie anstrengend sind? Ich empfehle euch heute welche, die kurz und ziemlich witzig sind – und die außerdem wunderbar zum blauen Frühlingshimmel passen: Der Gedicht-Band „Zupf dir ein Wölkchen“ von Joachim Ringelnatz.

Der Matrose, Kabarettist, Maler und Dichter Joachim Ringelnatz ist vor allem für seine „Unsinn-Dichtung“ bekannt: Oft beschreibt er Tiere und Dinge, die menschliche Eigenschaften bekommen. So bedichtet Ringelnatz zum Beispiel zwei reiselustige Ameisen, einen verliebten Briefmark, ein zu Scherzen aufgelegtes Staubkorn und einen Sauerampfer, der neben Bahngleisen wächst.

Bürgerliche Pedanterie und Doppelmoral parodiert er mit zwinkerndem Spott: Er fragt sich, was das wohl für ein Mensch ist, der das Steuerbogenformular erfunden hat oder lässt im Gedicht „Die Geburtenzahl“ dem Klerus eine entscheidende Rolle zukommen.

Aber Ringelnatz‘ Gedichte lassen die Leserin auch das Augenmerk auf die kleinen und großen Freuden des Lebens richten, mal melancholisch-sehnsüchtig („Ein ganzes Leben“, „Zu dir“), mal frisch vergnügt („Morgenwonne“, „Sommerfrische“).

Ein Bändchen, das uns das Warten auf den Frühling versüßt, Lust aufs Reisen macht („Reist aus! Steigt ein ins Eisenbahnkuppee!“) – und mit dem man sich auf helle, lange Sommertag und Faulenzen im Grünen freuen kann:

Sommerfrische

Zupf dir ein Wölkchen aus dem Wolkenweiß,
Das durch den sonnigen Himmel schreitet.
Und schmücke den Hut, der dich begleitet,
Mit einem grünen Reis.

Verstecke dich faul in der Fülle der Gräser.
Weil`s wohltut, weil`s frommt.
Und bist du ein Mundharmonikabläser
Und hast eine bei dir, dann spiel, was dir kommt.

Und lass deine Melodien lenken
Von dem freigegebenen Wolkengezupf.
Vergiss dich. Es soll dein Denken
Nicht weiter reichen als ein Grashüpferhupf.

Joachim Ringelnatz

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Katharina

„There is no cloud, just other peoples’ computers“ steht auf dem Sticker, den ich eigentlich wegen seiner hübschen Wolken-Form auf meinen Laptop geklebt habe – der mich aber dazu gebracht hat, über unterschiedliche Perspektiven auf den digitalen Wandel nachzudenken. Nach einem famosen Jahr in der Stadtbibliothek Erlangen arbeite ich deswegen als Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Erlangen-Nürnberg, um zu Möglichkeiten und Herausforderungen der Digitalisierung zu forschen. Zum Glück darf ich hier im Blog als Gastautorin immer noch von meinen unzähligen Leidenschaften berichten – von fremdsprachigen Romanen bis zu Musik und Filmen mit Hang zum Absurden. #digitaleselbstverteidigung #digitalerwandel #medienkompetenz #stilllovinfeminism

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