Sieben Jahre, von 2010 bis 2017 war Anne Reimann die “Chefin” der Erlanger Stadtbibliothek. Ein Interview über turbulente Zeiten, spannende Entwicklungen und die Frage, was ihr als Bibliotheksleiterin besonders wichtig war.
Wir haben miteinander die Dinge entwickelt, und wenn Leute so unterschiedlich sind, sich aber wirklich einbringen, dann wird etwas Gutes draus.
Kannst du dich kurz vorstellen?
Ich heiße Anne Reimann und bin Kulturamtsleiterin der Stadt Erlangen. Dahin bin ich nicht sehr geradlinig gekommen, sondern über einige Umwege. Zuerst habe ich als gebürtige Erlangerin, die allerdings in Schwabach aufgewachsen ist, hier ein soziales Jahr in einer Spielstube gemacht. Nach meinem Studium des Bibliothekswesens und zwei Jahre Berufsausübung wieder in Erlangen habe ich mir gesagt: „Ne, das kann’s noch nicht gewesen sein mit der Wissenschaft.“ Ich bin nach Frankfurt/M. und habe dort ein zweites Mal studiert: Germanistik im Hauptfach und Musikwissenschaft und Skandinavistik im Nebenfach. Danach bin ich über eine Station in einem Verlag und eine Weile Freiberuflichkeit wieder ins Bibliothekswesen zurück, denn das wollte ich immer. Nach weiteren drei Stationen, diesmal eben bibliothekarischen, bin ich hier angekommen als Leiterin der Erlanger Stadtbibliothek.
Du hast schon vor deiner Zeit als Bibliotheksleiterin einmal hier in der Stadtbibliothek gearbeitet, wann war das?
Das war von 1988 bis 1990. Erst war ich ein paar Wochen in der Fahrbibliothek eingesetzt und es wurde die Leitung in der Kinderbibliothek frei. Zu dieser Zeit hatte die Leitung schon Christine Keßler inne, die dann in die Elternzeit gegangen ist. Der damalige Leiter Herr Bahler hat mich gefragt, ob ich sie vertreten möchte. Ich wäre gar nicht auf die Idee gekommen, weil ich ja quasi noch Berufsanfängerin war. Aber dann habe ich mir gedacht: „Naja, wenn er es mir zutraut“ und habe es angenommen. Das war ein Sprung ins kalte Wasser für mich.
Wie hast du die Bibliothek damals empfunden im Vergleich zu Bibliotheken heute?
Vom Medienangebot her natürlich viel bücherzentrierter, damals kamen gerade erst die Videos auf, das weiß ich noch, da hat Herr Bahler ein Projekt machen wollen mit Videos für Jugendliche.
Aber grundsätzlich, von der Offenheit und der Belebtheit, gerade der Erlanger Stadtbibliothek, war das schon vergleichbar. Es gab die Klassenführungen, es gab kleine Ausstellungen in der Kinderbibliothek und die Ausstellungen in der Erwachsenenbibliothek mit sehr viel Zuspruch. Veranstaltungen bzw. Lesungen fanden natürlich auch statt. Auch diese Niederschwelligkeit war vorhanden – zum Beispiel haben sich die Kinder am Samstag zwei Stunden in der Kinderbibliothek aufgehalten, bis ihre Eltern wiedergekommen sind.
Natürlich, und das ist vermutlich der größte Unterschied, hat man diese ganzen Außenaktionen noch nicht gemacht. Das heißt, die aufsuchende Bibliotheksarbeit gab es zwar grundsätzlich als Konzept schon, aber dass die Bibliothek zu den Schulen oder Klassen fährt und beispielsweise ein Ganztagesprogramm zur Leseförderung durchführt, das gab’s damals noch nicht. Stattdessen kamen die Kinder einfach in die Bibliothek. Die Schulzeiten waren damals kürzer und die Kinder hatten daher mehr die Möglichkeit, eigenständig zu kommen. Es gab auch noch keine Computerarbeitsplätze, aber natürlich haben die Leute in der Bibliothek Zeitung gelesen oder gespielt, was auch wieder zu der niederschwelligen Treffpunktatmosphäre passt. Die Öffnungszeit am Samstag war nur bis 12 Uhr, das wäre heute undenkbar.
Es gab keine Onleihe, viel weniger fremdsprachige Medien, keine E-Book-Beratung, kein PC zum Kaffee, keinen digitalen Salon – alles noch in weiter Ferne. Auf diesem Feld ist sicher der größte Umbruch geschehen.
2010 hast du dann die Stadtbibliothek übernommen. Das waren turbulente Zeiten, die Wiedereröffnung stand an. Wie hast du diesen Einstieg für dich wahrgenommen?
Ich kann gar nicht sagen, dass ich einen exakten Plan hatte, was jetzt mit dieser Bibliothek zu passieren hat. Eine grundsätzliche Linie einer zeitgemäßen Bibliothek war mir klar, aber die inhaltliche Richtung der Veränderung der Bibliothek im Speziellen haben tatsächlich die Kolleg*innen rasch in die Hand genommen. Sie kannten sich ja aus in Erlangen. Ich konnte darauf vertrauen, dass die Kolleg*innen wissen, wohin sich jetzt die Bibliothek entwickeln muss, denn für mich haben die Herausforderungen rund um den Bau einen kaum mehr nachvollziehbaren Raum eingenommen. Es hat im ersten Jahr unglaublich viel Zeit gebraucht, die Baumängel und die Streitigkeiten darum auszubügeln. Obwohl es das Team schon sehr lange gab, waren durch diese Umbruchsituation – „ich ziehe jetzt in die Heka, ich zieh wieder zurück, das neue Haus ist nicht das alte Haus nur neu, sondern ganz neu zu bespielen” – die Strukturen im Team aufgebrochen. Das war ein Glücksfall für mich, weil man dann natürlich auch neue Strukturen in ein Team einziehen kann. Wenn ich einfach gekommen wäre, dann wäre das viel schwerer gewesen, mit dem Team neue Strukturen aufzubauen oder auch neue Zuständigkeiten zu definieren. So konnte man, da sowieso alles aufgebrochen war, die Aufgaben gemeinsam definieren oder auch einmal zuweisen. Das war ein Glück für mich und vielleicht auch für das Team, man konnte sich gemeinsam in die neue Zeit begeben. Das war aber, glaube ich, für alle anstrengend. Für mich sowieso, aber ich erinnere mich auch an diese eine Begebenheit, wo eine Kollegin zu mir ins Büro kam und gesagt hat: „Anne, wir machen es immer noch gerne, aber wir können bald nicht mehr.“ Da bin ich schon sehr aufmerksam geworden. Insgesamt war es eine Zeit, in der man wirklich ganz, ganz intensiv an dieser Umbruchszeit gearbeitet hat.
Wenn du nochmal zurückdenkst, was waren die ersten Schritte, die du als Leiterin der Bibliothek gegangen bist? Hast du dir einen Plan gemacht, welche Schritt du nacheinander abgehst oder hat sich das alles in den ersten Wochen im Alltag von selbst ergeben?
Es gibt einen Plan für neue Führungskräfte. Das sind Dinge gewesen, in die ich mich erst einfinden musste, die die Bibliotheksmitarbeitenden selber gar nicht so mitbekommen. Zum Beispiel die ganzen Strukturen der Stadtverwaltung, die ja durchaus in jeder Stadt unterschiedlich sind. Stadtrat, Ratsinformationssystem, die Gepflogenheiten. Das alles war vergleichsweise neu für mich und das war ein großer Bereich, in den ich mich einarbeiten musste. Und wie schon erwähnt, sind auch die Bauangelegenheiten nicht zu unterschätzen gewesen. Ich kann mich auch erinnern, dass wir sehr intensiv an der Außendarstellung der Bibliothek gearbeitet haben. Neben dieser ganzen Social-Media-Umbruchszeit und den neuen Wegen, die die Bibliotheken beschreiten mussten, haben wir auch die Veranstaltungen neu aufgesetzt. Es wurde eine Kollegin benannt, die das verantwortlich betreibt, und wir haben ein Konzept erarbeitet. Im Grunde waren es fast alle „bibliothekarischen“ Gebiete, die wir gemeinsam betrachtet haben und geschaut haben, was gibt’s denn jeweils zu tun. Zum Beispiel zielgruppenspezifische Bibliotheksarbeit: eine Person benennen und ihr die Verantwortung geben. Die Kolleg*innen sind ja Fachleute und waren schon lange in Erlangen vernetzt. Außerdem haben wir natürlich eine engmaschige Besprechungskultur etabliert.
Wenn du dich zurückerinnerst, welche Entwicklungen in der Zeit als Bibliotheksleiterin haben die Erlanger Stadtbibliothek besonders geprägt?
Wie gesagt, da war zunächst mal dieser Umstieg auf die neuen Techniken, also die Onleihe oder auch Social-Media. Und wenn man das ernst nimmt, bedeutet das ja nicht nur „Ich renn ein bisschen mit dem Facebook-Apparat durch die Gegend“, sondern das sind Konzepte und das ist eine Haltung, die dahintersteht. Deswegen war ich auch froh, dass wir eine groß angelegte, über mehrere Monate sich erstreckende Fortbildung machen konnten, um das bei den Mitarbeitenden zu verankern. Denn wenn ich mich reinbegebe ins System, dann muss ich beispielsweise auch erreichbar sein, ich muss antworten, ich muss kommunizieren und kann mich eben nicht sozusagen hinter dem Katalogkasten verstecken. Das ist schon eine große Haltungsänderung auch für Bibliotheksmitarbeiter*innen. Diese Öffnung, die dadurch passiert, wenn man sich mit dem Thema ernsthaft beschäftigt, war eine der großen Veränderungen. Andere Dinge, wie die Diskussionen um die Bibliothek als Dritten Ort, die verändern langfristig und in kleineren Schritten. Beispielsweise ist es eine Daueraufgabe, an der Aufenthaltsqualität zu arbeiten. Aber diese Haltungsänderung, die man benötigt, wenn man in die neue technische Welt einsteigt, die war, denke ich, für die Mitarbeitenden wirklich die größte Veränderung.
Eine weitere große Veränderung war die Ankunft der Geflüchteten. Hier mussten wir weniger an der Haltung arbeiten, sondern an der Flexibilisierung der Verwaltungsstrukturen. An diesem Punkt habe ich das Team als sehr ideenreich und zugewandt erlebt.
Was war dir bei allem besonders wichtig?
Mir war wichtig, dass wirklich alle Menschen kommen, dass wir für alle offen sind. Wir haben immer versucht, neue Leute anzusprechen und neue Leute für die Bibliothek zu begeistern. Es war auch manchmal anstrengend, wenn sie dann wirklich „alle“ da waren, das gebe ich auch zu. Aber im Grunde ist das das Ansinnen der öffentlichen Bibliotheken, den Leuten diesen Schatz und diese Möglichkeiten zu zeigen. Das Haus selbst, so schön es ist, ist nach außen hin leider nicht niederschwellig.
Marlene: Ja und wir haben auch die große braune, schwere Holztür.
Ja, das ist in gewisser Weise schade. Ich erinnere mich, als wir noch in der Heka waren, da war ich ja bloß zwei Wochen. Unten war der Tresen und da kam ein Mann reingestolpert, der glaube ich so ein bisschen angetrunken war. Er wurde sehr zuvorkommend bedient und kam wieder. Also dieses „Was ist denn da, ich stolpere mal rein“, da ist jetzt durch die Tür schon eine bauliche Barriere da.
Was war dir als Bibliotheksleiterin innerhalb des Teams besonders wichtig, welche Haltung hast du transportieren wollen?
Ich hoffe, dass ich die Haltung transportieren konnte, dass es ohne einander nicht geht. Dass einfach alle zusammenarbeiten müssen, sonst läuft so ein großes Haus nicht. Und das habe ich hoffentlich transportieren können. Ich war ja auch selber gerne im Publikumsbereich und habe an der Info im 1. OG oder in der Musikbibliothek Auskunft gegeben. Auch in der Kinderbibliothek Dienst zu machen hat mir großen Spaß gemacht.
2017 gab es dann eine Veränderung, du hast die Bibliothek verlassen. Wie kam es dazu?
Ich war vorher auf einer Kur. Dann kam ich wieder für zwei Wochen und war danach nochmal drei Wochen im Urlaub. Als ich aus dem Urlaub wiederkam, habe ich irgendwie gedacht, eigentlich brauchen die mich gar nicht mehr, der Laden läuft, der ist gut aufgestellt. Außerdem verspüre ich immer nach einer Weile eine Unruhe. Ich war auf der Suche nach neuen Herausforderungen. Und da hatte ich diese Ausschreibung für die Leitung des Kulturamts Erlangen gesehen und habe mir gedacht, das Profil passt, jetzt bewirbst du dich. Es war mir sehr ernst, mich darauf zu bewerben, sonst hätte ich es nicht gemacht. Das Kulturamt ist nochmal viel größer, man ist weiter weg von den einzelnen Institutionen. Da habe ich dann schon gefremdelt im ersten Jahr, anfangs habe ich manchmal gedacht: „Mist, es war vielleicht doch die falsche Entscheidung.“ Aber auch da wächst man rein, auch da ergeben sich neue Betätigungsfelder, auch da findet man seine Möglichkeiten zu gestalten, auch wenn man eben nicht so nah am Kunden ist oder Publikum. Insgesamt war es kein Weg weg von der Bibliothek, sondern hin zu was Neuem, das kann ich wirklich aus voller Überzeugung sagen.
Was war das Schönste an der Zeit als Bibliotheksleiterin für dich, was hast du besonders gemocht?
Ich könnte jetzt Highlights von Veranstaltungen erzählen, aber im Grunde war es, dass alle Mitarbeiter*innen so besonders waren. So konnte man diese vielen unterschiedlichen Dinge im Laufe der Jahre durchführen – ich erinnere z. B. an die „Living Library“ – und die Mitarbeiter*innen haben sich auf diese Sachen eingelassen. Wir haben miteinander die Dinge entwickelt, und wenn Leute so unterschiedlich sind, sich aber wirklich einbringen, dann wird etwas Gutes draus. Die Kinderbibliothek ist dafür ein gutes Beispiel.
Dass die Mitarbeitenden überwiegend so motiviert waren, war schon das Schönste. Wenn man früh kommt und freut sich, die Leute zu sehen, das ist zumindest bei mir ein nachhaltiger Eindruck. Insgesamt habe ich mich einfach wohlgefühlt, auch durchs Haus zu laufen, hier mal eine ehrenamtliche Mitarbeiterin oder da mal einen Hausverwalter zu treffen und mit ihnen zu sprechen und gleich Dinge zu regeln. Auch in der Medieneinarbeitung war ich ständiger Gast. Das Team war das Beste für mich in der Zeit.
Was meinst du, was sollte jeder*r über die Stadtbibliothek Erlangen wissen?
Also jede*r möchte ich ein bisschen spezifizieren. Weil: Jede*r aus der Bevölkerung soll wissen, dass es hier Interessantes zu entdecken gibt und man kommen kann und einem in doch sehr vielen Lebenslagen weitergeholfen wird.
Die Politik bzw. die Menschen, die über die Bibliothek entscheiden, auch die Kolleg*innen im Umfeld, sollten wissen, was hinter einem offenen Haus für Arbeit steckt und welche Haltung man sich immer wieder erarbeiten muss. Es wird nämlich vollkommen unterschätzt, was Niederschwelligkeit im Nachgang für das Team bedeutet und welche Konflikte oder Diskussionen das im Haus nach sich ziehen kann. Medien auswählen und hier eine Expertise vorhalten, das ist das eine, aber so ein Haus aufzumachen, in das täglich über 1000 Leute aus den unterschiedlichsten Gründen hineingehen, diese Arbeit wird selten gesehen.
Gibt es sonst noch irgendetwas, was du mitgeben willst?
Ja, ich hoffe immer, dass es gut weiterläuft und dass die Leute weiter die Wichtigkeit eines solchen Ortes sehen, einem Ort der Auseinandersetzung und der Diskussion. Man kommt auch dauernd ins Gespräch in der Bibliothek, und dieses „miteinander Reden“ ist eine ganz wichtige Sache. Ich hoffe, dass das wieder anläuft jetzt nach Corona, dass die Leute wieder rausgehen und in die Bibliothek hinein. Ich bin auch immer noch innerlich sehr beteiligt, wenn der neue Leiter Adrian La Salvia berichtet, was in der Bibliothek so passiert.
Ihr seid immer noch so Avantgarde mit dem WomenEdit oder dem Open Library Badge und ich bin immer wieder erstaunt über die Neuigkeiten.
Wenn ich am Samstag komme und die Schlange vor der Kinderbibliothek sehe, merke ich, dass es immer noch so ist, dass da ganz, ganz viel Bedarf ist und die Leute sich freuen. Dann freue ich mich auch.
Marlene
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