Stefan Zweigs Die Welt von Gestern in der Stadtbibliothek Erlangen

Stefan Zweigs „Die Welt von Gestern“ und das Europa von Heute

“Die Welt von Gestern” ist Zweigs Liebeserklärung an das durch die Weltkriege verwüstete Europa. Das Werk gewinnt durch die russische Invasion der Ukraine eine tragische Aktualität. Lesen Sie von den frappierenden Ähnlichkeiten der Erinnerungen eines großen Europäers mit dem Europa unserer Zeit.

Stefan Zweig

Stefan Zweig wurde 1881 in Wien in eine jüdische Familie geboren. Nach Besuch des Gymnasiums und Abschluss seines Studiums mitsamt Dissertation ließ er sich im Anschluss an den Ausbruch des ersten Weltkriegs 1914 im Rahmen des Kriegsdiensts in ein Kriegsarchiv versetzen. 1919 kehrte Zweig, der zuvor zwei Jahre in der neutralen Schweiz gearbeitet hatte, in seine Heimat Österreich zurück. Solange ihm die Freiheit dazu gewährt wurde, war er immer wieder auf Reisen in und außerhalb von Europa. Er flüchtete sich 1934 nach einer Hausdurchsuchung seines Wohnsitzes in Salzburg nach England, wo er mehr als sechs Jahre verbringen sollte. Da er dort, nachdem die Nationalsozialisten Belgien überfallen hatten, den Status eines enemy alien trug und der Krieg immer näher rückte, floh er 1940 weiter in die USA und nach Brasilien.

Zweig wurde früh schriftstellerisch tätig und feierte weltweit große Erfolge. Leider ist auch das Verbot und die kulturelle Bankrotterklärung der Bücherverbrennungen dunkles Kapitel der Rezeption Zweigs. Dies konnte seine internationale Popularität allerdings nicht beeinträchtigen, bis heute sind seine Werke vielgelesen und hochrelevant (bspw. „Sternstunden der Menschheit“; „Schachnovelle“, „Die Welt von Gestern“).[1]

Doch die Zeit der ständigen Flucht und der deutsche Verfall in die Barbarei zehrten an Zweigs Kräften. In seinem Abschiedsbrief erklärte Zweig seine Erschöpfung aufgrund des Verlusts seiner „geistige[n] Heimat Europa“ und durch die „langen Jahre heimatlosen Wanderns“.[2] Zweig schied am 23.02.1942 aus freien Stücken, aber doch durch die Erfahrung der Weltkriege und des Exils in seinem Pazifismus und der Hoffnung auf ein geeintes Europa erschüttert, gemeinsam mit seiner zweiten Frau Lotte aus dem Leben.

„Die Welt von Gestern”…

…ist, so betont es Zweig, keine reine Autobiographie. Die „Zeit gibt die Bilder, ich spreche nur die Worte dazu“,[3] heißt es im Vorwort. Doch es bleibt ein Hineinfühlen, ein im Ansatz objektivierendes, aber subjektiv verhaftet-bleibendes Erinnern in die Atmosphäre einer dramatischen Epoche. Von seinem Selbst ausgehend rekapituliert Zweig die prägenden Ereignisse und das Lebensgefühl seiner Generation.

Man muss sich bewusst machen, dass Zweig Literatur schreibt und keinen objektiven Faktenbericht. Einerseits ist sie nicht frei von Selbstkritik, andererseits wird manche Inkonsequenz beim Schreiben geglättet, manches bleibt unerinnert. Wer sich ein möglichst authentisches Bild vom Menschen Stefan Zweig machen möchte, sei noch auf andere Informationsquellen verwiesen. Einen empfehlenswerten Einblick in sein Leben gibt unter anderem der Film „Vor der Morgenröte – Stefan Zweig in Amerika“, der die letzten Jahre des Autors im Exil thematisiert.

Zweig lässt in seinem posthum veröffentlichten Werk ein in zwei Weltkriegen untergegangenes Europa wiederauferstehen und skizziert sowohl das natürliche Gefühl der Sicherheit vor dem 1. Weltkrieg als auch die Erschütterung desselben nach Kriegsausbruch. Er schildert die ihm von Beginn an befremdliche Kriegseuphorie und ihr Erkalten im Angesicht der Grausamkeit des Krieges. Er berichtet von den Entbehrungen der Nachkriegszeit und seiner Heimkehr nach Österreich. Er erzählt von seinen Reisen und der kurzen Pause zwischen den Kriegen. Er erinnert, wie Hitler noch ein bedeutungsloser Name war und wie die Sorge um den Frieden gleichsam mit dem Schrecken vor den Diktatoren Deutschlands und Italiens wuchs. Wenn sie auch zentrale Orientierungspunkte bleiben, sind die Kriege keineswegs das einzige Thema des Buchs. Wenn Zweig zu den „ersten Stunden des Krieges von 1914“ kommt, ist bereits die erste Hälfte, in der unter anderem das Schulwesen, der Umgang mit Sexualität, das Studium an der Universität und das Lebensgefühl in Paris behandelt werden, gelesen.

Dabei ist Zweigs Werk keinesfalls eine reine Verfallsgeschichte, kein deprimierendes Untergangsepos. Satt und voll wirkt jener Sommer 1914, wie ihn Zweig schildert: „Paris war zu schön in jenen Tagen und wir selbst zu jung und zu glücklich“. Wie schön und menschlich dieser Moment, als Zweig bei seiner ersten Reise ins Ausland nach dem ersten Weltkrieg angespannt vor einem italienischen Portier steht, seine Nationalität angibt und sein Gegenüber fröhlich „Ah, che piacere! Finalmente!“ ausruft. Schwer ist es auch, sich ein Lächeln zu verkneifen, wenn Zweig vom in Uniform verkleidet wirkenden Rilke erzählt.

„Die Welt von Gestern“ umfasst Höhen und Tiefen, Verdienste und moralischen Verfall der Menschen. Programmatisch für dieses Gestaltungskonzept ist die Kapitelüberschrift „Glanz und Schatten über Europa“.

… und das Europa von Heute

„Und dann, was wußten 1914, nach fast einem halben Jahrhundert des Friedens, die großen Massen vom Kriege?“, fragt Zweig, um selbst zu antworten: „Sie kannten ihn nicht, sie hatten kaum je an ihn gedacht.“ Liest man das, muss man unwillkürlich an die lange Friedenszeit denken, die Europa nach 1945 weitgehend[4] vergönnt war.

Auch die Zweifel am Ausbruch der Katastrophe, die vor einigen Wochen sicherlich noch viele von uns begleitet haben, erscheinen wie in einem Spiegel: „Ich habe, ehrlich gesagt, damals nicht an den Krieg geglaubt“– eine Aussage, die auch den russischen Angriff auf die Ukraine beschreiben könnte.

Die einschneidende Zäsur, die die russische Invasion für Europa darstellt, und die Fassungslosigkeit in Anbetracht dieser Tragödie hinterlassen ein Gefühl von Diskontinuität, denn – wir fühlen es – abermals sind „zwischen unserem Heute, unserem Gestern und Vorgestern […] alle Brücken abgebrochen“.

Auch vom Gefühl der Erniedrigung und dem Leid, als Flüchtling zu leben, immer Fremder, immer Bittsteller zu sein, berichtet Zweig, weil er selbst – wenn auch finanziell abgesichert – einer war und anderen in großem Elend begegnete. Auch jetzt treffen wir wieder auf Flüchtende, Menschen wie wir, Menschen, die wir selbst sein könnten, die schuldlos in diese Not geraten sind. Es gilt nun, Leid zu lindern und Menschlichkeit zu zeigen.

Zweigs moralischer Standpunkt, sein Pazifismus, seine klare und kritische Sicht auf die Gefahren des Nationalismus, „der die Blüte unserer europäischen Kultur vergiftet hat“, sein Kosmopolitismus, seine Abscheu gegen die „Pest des Rassenreinheitswahns“ und schließlich seine tiefe Liebe zu Europa sind nicht nur noch immer aktuell, sondern in diesen traurigen Tagen für Europa aktueller denn je.

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Über den Verfasser des Blogbeitrags:

Mein Name ist Lukas Rauch und ich studiere an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Latein und Deutsch auf Gymnasiallehramt. An der Stadtbibliothek durfte ich im Rahmen eines vierwöchigen Betriebspraktikums viel über die Möglichkeiten und Chancen einer Kooperation zwischen Schule und Bibliothek lernen.

Fußnoten

[1] Zu Stefan Zweigs Leben und Werk vgl. Larcati, Arturo/Renolder, Klemens/Wörgötter, Martina (Hrsg.): Stefan-Zweig-Handbuch, Berlin/Boston 2018.

[2] Stefan Zweigs Abschiedsbrief ist kontextualisiert und online lesbar auf der Seite des Projekts „Stefan Zweig digital“, initiiert durch das Literaturarchiv Salzburg: https://www.stefanzweig.digital/o:szd.thema.5/sdef:TEI/get?locale=de

[3] Wörtliche Zitate entspringen alle, soweit nicht anderweitig angemerkt, Stefan Zweigs „Sternstunden der Menschheit. Erinnerungen eines Europäers“, Fischer 2006.

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