Im Jahre 1797 kommen in Erlangen zwei starke Persönlichkeiten zusammen: die damals schon 60jährige Markgräfin Sophie Caroline und der junge und aufstrebende Pianist und Komponist Franz Seraph Destouches (1772-1844). Ein Gastbeitrag von Prof. Dr. Michele C. Ferrari (Thema und Text) und Alena Hönigová (Fortepiano Walter/Ibach und Video).
Video: Alena Hönigová, Fortepiano Walter/Ibach.
Franz Seraph Destouches (1772–1844)
Sonate op. 1 Nr. 2, aus den Trois Sonates pour le Clavecin ou Forte-Piano „composées par M. F. Destouches, élève de M. J. Haydn“, Œuvre 1ère. Offenbach: J. André [1792]
Einführung
„Ein coup! Mir ist ein wahrer Coup gelungen, ma chère! Das werden Sie kaum glauben, aber ich konnte einen Schüler von Mozart und Haydn als Kammermusikus einstellen. C’est magnifique!“ Mit diesen oder ähnlichen Worten wird Sophie Caroline, verwitwete Markgräfin von Brandenburg-Bayreuth, ihre Freude über die soeben erfolgte Anstellung von Franz Seraph Destouches (1772-1844) geäußert haben. Im November 1797 kamen auf diese Weise zwei besondere Persönlichkeiten im Erlanger Schloss zusammen.
Sophie Caroline, eine Welfin in Erlangen
Sophie Caroline war das dritte Kind von Herzog Karl I. von Braunschweig-Wolfenbüttel (1713-1780) und in Braunschweig wurde sie 1737 geboren. Am Hofe der Eltern genoss sie eine exzellente Erziehung, in der die französische aufklärerische Kultur eine hervorragende Rolle spielte. Bis zu ihrem Tod sprach und schrieb sie lieber auf Französisch als auf Deutsch. Als sie starb, hinterließ sie in Erlangen eine bedeutende Bibliothek (mehr als 600 Werke in über 1650 Bänden, die heute in der Universitätsbibliothek Erlangen aufbewahrt werden), in der allerdings keine Werke von Goethe und kein Schiller vorhanden waren. Schilllers Geschichte des Dreißigjährigen Krieges besaß sie in der französischen Übersetzung von 1803.
Die junge Braunschweigerin war wegen ihrer edlen Herkunft und der politischen Bedeutung des Welfen-Geschlechtes durchaus eine begehrte Partie. Es heißt, dass 1752 ein Ehebündnis mit dem künftigen König George III. von England (1738-1820) aus dem Hause Hannover erwogen wurde. George starb bekanntlich in geistiger Umnachtung, so dass diese Heirat vielleicht kein gutes Geschäft für Sophie Caroline gewesen wäre. Ob allerdings die Vermählung mit dem 26 Jahren älteren Markgraf Friedrich III. von Brandenburg-Bayreuth sie begeisterte, ist nicht überliefert.
Aber wenn schon nicht nach London, so durfte die begabte, passionierte Klavierspielerin 1759 zumindest an einen Hof ziehen, an dem nicht nur Wild- und Schürzenjagd betrieben wurde. Unter Friedrichs erster Frau, Wilhelmine von Preußen (1709-1758), der Schwester Friedrichs des Großen, blühten in Bayreuth die Künste auf, und der Markgraf selbst scheint ein milder und in der Bevölkerung sehr geliebter Landesvater gewesen zu sein. Er eröffnete in Erlangen 1719 ein Theater, das nach wie vor bespielte Markgrafentheater, und 1743 eine Universität, die heutige Friedrich-Alexander-Universität. Als er im Februar 1763 starb, war seine Witwe erst 26. Ihr und den anderen Musik- und Kunstliebhabern blies plötzlich ein kalter Wind ins Gesicht, weil Friedrichs Nachfolger, sein Onkel Friedrich Christian (1708-1769), tat das, was seinem Vorgänger abhold gewesen war: er sparte. Scharenweise verließen Maler, Baumeister und Musiker das „oberfränkische Athen“, und auch Sophie Caroline musste einpacken. Das leerstehende Erlanger Schloss wurde für sie eingerichtet, und sie zog im Januar 1764 nach Erlangen, um hier über 50 Jahre und mit wenigen längeren Unterbrechungen (etwa für eine Italienreise 1789-1790, die sie bis Rom und Neapel führte) bis zu ihrem Tod 1817 zu leben.
Das traurige Erlangen
In späteren Jahren beschwerte sich Sophie Caroline über ihre Einsamkeit in einer Stadt, die ihr wenig Unterhaltung bot: sie sei dazu verdammt, schrieb sie einmal, im „traurigen Erlangen“ auszuharren. Ein anderes Mal stellte sie resigniert fest: „Aber mein Schicksal ist es, im Verzicht zu leben“. Doch blieb sie in ihrem Schloss, bis zuletzt umsorgt von einem ansehnlichen Hofstaat, weil sie das ruhige Leben dort letztendlich doch hochschätzte: „Ich bin in meine vier Wände eingeschlossen, lese, schreibe, spiele etwas Klavier, arbeite etwas, Gesellschaft habe ich keine, meinen Lesestoff besorge ich mir selbst, ich fühle mich nur in meinen hübschen Wohnung wohl“, teilte sie um 1789 ihrem Bruder mit. Es ist kaum vorstellbar, was in ihr vorging, als das Schloss 1814 abbrannte und sie in den Palais Stutterheim, den jetzigen Sitz der Stadtbibliothek Erlangen, umziehen musste. Immerhin wurde die Bibliothek gerettet, und auch die Musikalien dürfen den Brand überlebt haben, auch wenn sie nach wie vor verschollen sind.
Das lustige Erlangen
Der Musik und der Bühne galt Sophie Carolines Leidenschaft. Bis Erlangen 1792 preußisch wurde bzw. 1806 durch die Franzosen besetzt wurde und 1810 an das Königreich Bayern kam, was härtere Zeiten einleitete, ließ es sich in der fränkischen Provinz gut leben und genießen. Sophie Caroline nahm regen Anteil am kulturellen Leben der Region, das sie auch finanziell förderte. 1776 ist die erste Opernaufführung in Erlangen belegt, und zwischen 1778 und 1791 gab es immerhin monatlich zwei bis fünf Bühnenaufführungen, meistens mit reisenden Theatercompagnien, die sie sich nur in seltenen Fällen entgehen ließ. Die Markgrafenwitwe umgab sich mit Gleichgesinnten, wie jenem schillernden Juristen, Geiger und Impresario Louis Sebastian Cella (1750?-1802), der in Bayreuth die „Unterdirektion“ der Oper innegehabt hatte und 1790 ihr Haushofmeister wurde. Als 1798 in Erlangen die Theatercompagnie von Cosmas Morelli bankrott ging, übernahm er sie und zog später bis Wien weiter. Die Markgräfin verfügte nicht nur über einen Musiksalon im Schloss, sondern beschäftigte auch regelmäßig Kammermusiker zu ihrem privaten Vergnügen. Die letzte Zahlung dafür datiert vom September 1817, drei Monate, bevor Sophie Caroline mit 80 Jahren verstarb.
Sophie Caroline war eine außerordentliche Erscheinung. Keine Schönheit, aber eine beeindruckende Persönlichkeit, gelehrt und sprachbegabt. Sie konnte Englisch, Französisch und Italienisch, nur die deutsche Sprache war, wie schon angemerkt, nicht ganz die ihre – sogar ihr Testament ist auf Französisch verfasst. Sie war witzig und scharfsinnig. Schon 1754 wurde ihr „Geist mit Majestät“ attestiert. Sie hasste Klatsch und war eine gute und gegenüber den Bediensteten großzügige Haushälterin, doch besaß sie einen Hang zum Theatralischen, auch in der äußeren Erscheinung. Nach einem Besuch bei Verwandten in Potsdam wurde empört moniert, sie habe „ganz die Gepflogenheiten einer italienischen Schauspielerin“ angenommen, trage zu viel Schminke und auffällige Kleidung. Ihre Aufmachung stieß immer wieder biedere Geister vor den Kopf. Noch 1809 erregte sie das Gemüt eines Besuchers, der aber gleichzeitig zugeben musste, sie sei mit „einem Verstand von beißender Schärfe“ versehen. Man wundert sich nicht wenig, dass bis zum heutigen Tag keine Ausgabe ihrer Korrespondenz vorliegt.
Die Markgräfin und ihr Kammermusiker
Wir wissen nicht, wie sie auf Destouches kam. Er war 1772 als Sohn eines Hofkammerrates namens Joseph des Touches in einer 1715 nach München übersiedelten französischen Familie geboren worden, die über künstlerische Gene verfügte. Sein Bruder Joseph Anton (1767-1832) wurde als Jurist ausgebildet, bekleidete hohe Ämter in Bayern und schrieb auch gerne für die Bühne; der andere Bruder Cajetan (1769-1833) war Medailleur in der Isar-Stadt.
In München wurde Franz Seraph zuerst durch den Augustiner-Eremiten Theodor Grünberger (1756-1820), einen damals bekannten Orgelspieler und Tonsetzer, unterrichtet. Später nannte sich Destouches stolz „Schüler von Joseph Haydn“, wie er auf dem Titelblatt seiner drei Sonaten op. 1, die 1792 im Druck erschienen, schrieb. Grund dafür war offenbar ein Aufenthalt in Schloss Esterházy in Eisenstadt um 1787-1790, wo er vielleicht nicht als Pianist, sondern als Cellist im Hoforchester mitwirkte und mit Haydn verkehrte. Im Jahr 1791 unternahm bekanntlich Haydn seine erste Reise nach London. Auch wurde berichtet, er sei danach in Wien durch Mozart unterrichtet worden. Robert Münster, der dieser Frage nachging, kam in einem Aufsatz von 1998 zum Schluss, dass Destouches im Jahre von Mozarts Tod, 1791, durchaus in dessen Umkreis hat wirken können. Er war vielleicht tatsächlich dabei, als der todkranke Mozart am Requiem schrieb, war allerdings mit Sicherheit nicht wie andere Freunde und Schüler des Meisters daran beteiligt, das Werk zu vollenden.
Nach einem Aufenthalt in seiner Geburtsstadt nahm Destouches die Einladung der Markgräfin nach Erlangen an, wo er rund zwei Jahre blieb (1797-1799). Wir wüssten gern mehr über sein Wirken hier, aber es sind lediglich spärliche Nachrichten überliefert. Es ist beispielsweise bekannt, dass er Kontakt zu Universitätskreisen hatte. Der Jurist und Kunstliebhaber Johann Baptist Bertram (1776-1841), der kurz in Erlangen studiert hatte und später mit den Kölner Brüdern Melchior (1786-1851) und Sulpiz Boisserée (1783-1854) jene für die deutsche Romantik so bedeutende Sammlung mit altdeutscher Kunst gründete, erinnerte sich an die Bekanntschaft mit ihm.
Musikstadt Erlangen
Wegen des Quellenmangels ist unbekannt, was Destouches bewegte, nach Erlangen zu kommen. Aber die Musikbegeisterung der Markgräfin war bekannt, und die Universitätsstadt Erlangen, die damals um die 8000 Einwohner zählte, war in jener Zeit durchaus auch als Musikzentrum attraktiv. Neben den schon genannten Theater- und Opernaufführungen wurde 1792 die Reihe der Mittwochskonzerte eingeführt, und es bildeten sich zeitweise zwei Orchester, die sich aus Musikliebhabern der Stadt und der Region zusammensetzten. Die Stadtkapelle spielte nicht nur bei Bällen anlässlich des Besuchs hoher Gäste bei Sophie Caroline, darunter mehrere Adlige wie 1783 König Gustav III. von Schweden oder berühmte Reisende wie Madame de Staël und Chateaubriand, sondern sie trat auch in Konzerten auf, um berühmte Virtuosen zu begleiten, die in Erlangen Station machten. Carl Stamitz gab hier 1787 zwei Abende, genauso wie 1789 der damals erst 9jährige Franz Clement, der spätere Widmungsträger von Beethovens Violinkonzert. 1809 kam Weber, 1815 Spohr.
Der Jakobiner Georg Friedrich Rebmann (1768-1824) ergoss zwar in seinen ätzenden, 1792 erschienenen Briefen über Erlangen seinen Spott über die lokale Musikpflege: „Die hiesigen Stadtmusikanten (…) sind blos an das Bierfideln gewohnt, und haben für ernstere und erhabenere Music keinen Sinn“. Jedoch ist nach dem, was wir wissen, dieses Urteil unzutreffend. Die Musikerfamilie Scherzer tat sich etwa mit guten Aufführungen hervor, was im Übrigen auch Rebmann anerkannte, und auch die Kirchenmusik war allem Anschein nach in guten Händen. Aufführungen von Händels Messias, Haydns Schöpfung und Mozarts Requiem sind für das frühe 19. Jahrhundert belegt.
Es kommt hinzu, dass die Mitglieder der Familie Schiedmayer ab der Mitte des 18. Jahrhunderts die mittelfränkische Stadt als ein überregional beachtetes Zentrum des Klavierbaus etabliert hatten. Johann David Schiedmayer (1753-1805), der begabteste Sprössling in der zweiten Generation, siedelte zwar 1797 von Erlangen nach Nürnberg um, aber sein Bruder Adam Achatius blieb in der Stadt und baute weiter Clavichorde und Fortepiani. Das Vorhandensein solcher Musiker und Handwerker wird auch Destouches von der Richtigkeit seiner Wahl überzeugt haben.
Destouches in Weimar
Im März 1799 wechselte Destouches nach Weimar, wo er Konzertmeister im Hoforchester des Herzogs Carl August (1757-1828) und seit 1802 auch Musiklehrer am Herzoglichen Seminar und Gymnasium war, letzteres gegen den erklärten Willen von Herder, der sich keinen Vertreter des „Theatergeschmackes“ und schon gar keinen Katholiken für den Posten gefallen lassen wollte. Doch Goethe setzte sich durch, und Destouches bekam auch diese Stelle. Im Jahr 1804 wurde er Weimarer Kapellmeister. Wie die Vermittlung von Erlangen nach Weimar zustande kam, ist unbekannt, aber sie ist leicht mit familiären Banden zu erklären: die Herzogin Anna Amalia (1739-1807), die Mutter Carl Augusts, war die um zwei Jahre jüngere Schwester von Sophie Caroline, und 1775 war auch der künftige Herzog, ihr Neffe, zu Besuch bei der Base im Erlanger Schloss gewesen.
Die Weimarer Zeit ist zweifelsohne der Höhepunkt im Schaffen des Franz Seraph Destouches. Er war nicht nur Teil des blühenden Weimarer Kulturlebens und mit Schiller und Goethe bekannt oder sogar befreundet. Ihm wurde auch die Ehre zuteil, ab 1800 für mehrere Uraufführungen von Schillers Stücken (die Macbeth-Übersetzung, 1800; Turandot, 1802; Die Braut von Messina, 1803; Die Jungfrau von Orléans, 1803; Wallenstein, 1804; Wilhelm Tell,1804) die Bühnenmusik zu komponieren. Schiller hat ihn offenbar geschätzt. Im Vorfeld der Premiere von Turandot ließ er sich die Komposition vorspielen und lobte in einem Brief an Goethe einen Marsch, „der sich ganz gut ausnimmt“ (Brief aus Weimar vom 20. Januar 1802)
Goethe, der bekanntlich Missfallen an zu eigenständigen Musikerpersönlichkeiten wie Beethoven und Schubert fand, protegierte ihn. Noch 1808 empfahl er Iffland, die Bühnenmusik zu Werners Wanda für eine Berliner Aufführung zu übernehmen, was jener aber nicht tat. Als Destouches 1809 seine Entlassung erwirkte, erreichte Goethe für ihn, dass er eine verhältnismäßig hohe Pension bis zu seinem Lebensende erhielt.
Destouches komponiert für Schiller
Das Urteil einiger Zeitgenossen und vor allem der späteren Nachwelt über den Komponisten Destouches fiel hart aus. Allerdings wecken einige harsche Vorwürfe unsere Neugier. Ein Rezensent bemängelte etwa 1806, dass Destouches für Turandot die chinesische „Nationalmusik kopiert“ und eine „so barbarische, gegen das Ohr, wie gegen alles, was Regel heißt, gleichmäßig anlaufende Komposition“ geschrieben habe, was für moderne Hörer doch von Interesse wäre (die Partitur ist jedoch verschollen, und wir verfügen nur über eine Bearbeitung des Komponisten für Violine und Klavier, als op. 15 in Augsburg gedruckt). Nach und nach setzte sich in der Forschung das Bild eines peinlichen Minderbegabten durch, der im Weimarer Olymp der Zeit dem angeforderten Niveau nicht entsprach. Dietrich Fischer-Dieskau meinte zu wissen: „In Weimar regiert leider als oberster Chef der Musiker Herr Destouches, dem man zwar nicht viel vorwerfen kann, dessen Mittelmäßigkeit aber viele längst satt haben“. Was kaum beachtet wurde: in Weimar stand Destouches unter ständigem Leistungsdruck, so dass es überraschend gewesen wäre, wenn es bei diesem Signor Dappertutto nicht zum burn out gekommen wäre. Neben seinen Amtspflichten, etwa der musikalischen Einrichtung und Leitung von Opernaufführungen im Hoftheater, wie jene von Glucks Iphigenie auf Tauris 1800, veranstaltete er 1801 eine Reihe von Abo-Konzerten, die in dieser Form für Weimar neu waren, was allerdings einen regelrechten Aufstand bei den beteiligten und offensichtlich allzu bequemen Musikern hervorrief. Das Verhältnis zu seinem Orchester wurde nie richtig partnerschaftlich.
In den Jahren 1804 und 1805 musste Destouches die Bühnenmusik zu drei Kotzebue- und Schiller-Stücken innerhalb von zwei Monaten schreiben, dazu die Festmusik für die Vermählung des Erbprinzen Carl Friedrich und die Trauermusik für das Begräbnis von Schiller (1805). Er fand noch die Energie, ein eigenes Singspiel, Das Missverständnis auf einen Text von Pius Alexander Wolff (1782-1828), im April 1805 auf die Weimarer Bretter zu bringen. Auch wenn man berücksichtigt, dass es sich bei der Bühnenmusik insgesamt um Suiten von kurzen Stücken handelte, war Destouches zu einem musikalischen Frondienst verpflichtet, der sicherlich seine Nerven überstrapazierte.
Eine Entdeckung: Die Klaviermusik von Destouches
Die Stücke, die wir im Video zum ersten Male nach 200 Jahren zur Aufführung bringen, sind richtige Entdeckungen und zeigen eindrücklich, dass Destouches ein begabter Komponist war, der um 1800 zu großen Hoffnungen Anlass gab.
Die zweite Klaviersonate aus dem Opus 1 „par un élève de Monsieur Joseph Haydn“ („von einem Schüler von Herrn Joseph Haydn“) ist kein Stück in der Nachfolge des Wiener Meisters. Destouches übernimmt vielmehr den heroischen Gestus der um 1760-1770 geborenen Generation. Beethoven, der wie Destouches zu Anfang der 1790er Jahre nach Wien gekommen war, widmete wie sein Münchner Kollegen Klaviersonaten Haydn (op. 2, 1794-1795 ). Destouches orientiert sich noch mehr als Beethoven an den geläufigen internationalen Modellen des brillanten Klavierspiels, vor allem im ersten, energischen Satz. Zum Vergleich kann man etwa Dusseks Sonate op. 9 Nr. 3 in D-dur oder Clementis Sonate op. 23 Nr. 2 in F-Dur beide um das Jahr 1790 entstanden, heranziehen. Das Ergebnis ist ein Stück, das den Vergleich mit den besten Kompositionen der Zeit standhält.
Mit der 1798 veröffentlichten und wahrscheinlich während des Erlanger Aufenthaltes verfassten Fantasie greift Destouches diese freie und als modern empfundene Form der Klavierkomposition als einer der ersten nach Carl Philipp Emmanuel Bach und Mozart auf: Jan Ladislaus Dusseks (1760-1812) Fantasia und Fuge op. 55 wurde möglicherweise schon 1791 geschrieben, das Caprice op. 4 von August Eberhard Müller (1767-1817) um 1793 (Müller wurde im übrigen 1810 Nachfolger von Destouches in Weimar), Beethoven gab seine Fantasie in g-moll op. 77 erst 1809 in Druck. Destouches gelang ein gefälliges, an Stellen virtuoses Stück, das ein beredtes Zeugnis ablegt über die Fähigkeiten eines Komponisten und Pianisten, dem Ernst Ludwig Gerbert 1812 anerkennend attestierte, er sei „ein braver Klavierist“.
Destouches und die Bühnenmusik
Das Urteil über seine Theaterkompositionen ist schwierig, weil die meisten Bühnenmusiken nicht in ihrer ursprüngliche Form als Orchesterstücke erhalten sind, zumal jene für die Schiller-Uraufführungen. Destouches bearbeitete selbst die Musik für Wilhelm Tell für Klavier. Auch in dieser Fassung erkennt man, dass er ansehnliche, wenn auch sehr schlichte Musik im Dienste des gesprochenen Wortes zu schreiben vermochte.
Beate Agnes Schmidt schreibt, dass die Partitur zur „romantischen Tragödie mit Gesang“ Wanda, Königin der Sarmaten von Zacharias Werner (1768-1823) (uraufgeführt in Weimar am 30. Januar 1808) nicht nur banale Gebrauchsmusik enthält, sondern durchaus effektvoll gestaltet ist. Eine moderne Wiederaufführung könnte dieses Urteil bestätigen.
Die späten Jahre des Franz Seraph Destouches
Nach Weimar war Destouches noch beschieden, als Pianist und Komponist für mehrere Jahrzehnte zu wirken, ohne jedoch an die Erfolge in Weimar anknüpfen zu können. Er wechselte 1811 nach Landshut, wo er an der damals jungen Universität wirkte, dann begab er sich für mehrere Jahre auf Konzerttourneen, bis er 1814 eine Anstellung am Oettingen-Wallersteinschen Hofe bekam. Der Fürst Ludwig Kraft Ernst Karl (1791-1870), der sein Dienstherr wurde, war ein kultivierter Herrscher, aber auf musikalischem Gebiet lag die große Zeit seines Hofes schon weit zurück. Sehr engagiert scheint Destouches in Hessen nicht gewesen zu sein: schon im Dezember 1816 wurde er wegen häufiger Abwesenheit (für Konzertreisen?) entlassen.
Er zog 1820 nach Homburg. Als Hessischer Kapellmeister des Landgrafen Friedrich V. Ludwig (1748-1820) und seines Nachfolgers Friedrich VI. (1769-1829) leitete er die erste und letzte Hofkapelle am Hessischen Hofe für über 20 Jahre. Allerdings führte sein Lebensstil auch zu einem kurzfristigen Arrest (1831) und zur persönlichen Insolvenz.
Nach seiner Pensionierung (1841) fuhr er nach München zurück, wo er im Dezember 1844 verstarb. Seine Geburtsstadt hat ihn vergessen, an seinen weiteren Lebensstationen bleib er ein Fremder und zuletzt ein Überlebender aus einer vergangenen Epoche: als er starb, feierten gerade Chopin, Liszt und Schumann Triumphe, und der 11jährige Johannes Brahms legte seine ersten Kompositionsversuche vor . Doch verdienen sein Werdegang und sein breites Œuvre unsere Aufmerksamkeit. Neben der Klaviermusik schrieb und veröffentlichte er Lieder, Kammermusik mit Klavier oder für Bläser, ein erhaltenes Klavierkonzert von 1802, eine schöne Symphonie in D-Dur, die Peter Gülke vor 15 Jahren dankenswerterweise ausgegraben hat, ein 1806 in Weimar gespieltes Oratorium, Messen, sowie vier Opern.
Ein Zeuge seiner Zeit
Das unstete und wechselreiche Leben des Franz Seraph Destouches ist typisch für die Künstler und insbesondere der Musiker der damaligen Zeit, die wie Beethoven zwar zu den Helden des immer stärker werdenden Bürgertums wurden, aber ihren Lebzeiten nach wie vor am Tropf des Adels hingen. Die Sonate und die Fantasie, beide vor 1800 entstanden, sind die Werke eines geschickten, modernen Komponisten, der unter anderen Umständen zu Höherem berufen gewesen wäre.
BIBLIOGRAPHIE
Die angegebenen Links wurden am 26. April 2023 eingesehen
Zu Leben und Wirken von Franz Seraph Destouches (1772-1844)
Fischer-Dieskau, Dietrich: Goethe als Intendant. Theaterleidenschaften im klassischen Weimar, München 2006.
Gerbert, Ernst Ludwig: Neues historisch-biographisches Lexikon der Tonkünstler. Bd. 1, Leipzig 1812, Sp. 877-878.
Goethe-Handbuch. Supplemente. Bd. 1: Musik und Tanz in den Bühnenwerken. Herausgegeben von Gabriele Busch-Salmen unter Mitarbeit von Benedikt Jeßing, Stuttgart / Weimar 2008.
Günther, Georg: Friedrich Schillers musikalische Wirkungsgeschichte. Ein Kompendium, (Musik in Baden-Württemberg, Quellen und Studien 10 ), Stuttgart 2018, S. 107-109.
Huschke, Wolfram: Musik im klassischen und nachklassischen Weimar, Weimar 1982.
Jakob, Michael: „Die Musik am landgräflichen Hof zu Hessen-Homburg (1622-1842)“, in: Mitteilungen der Arbeitsgemeinschaft für Mittelrheinische Musikgeschichte 56 (1990), S. 240-247.
Kramer, Ursula: Art. Destouches, in: Musik in Geschichte und Gegenwart. Personenteil. Bd., 5 (2001), Sp. 924-925.
Literatur, die, des 18. Jahrhunderts. Das Zeitalter der Aufklärung. Nach den Vorarbeiten von Benno Hubensteiner herausgegeben von Hans Pörnbacher, (Bayerische Bibliothek 3 ), München 1990, S. 986-994, 1212 (zu Joseph Anton Destouches).
Münster, Robert: „Goethes Musikmeister in Weimar. Franz Seraph Destouches, ein vergessener Komponist in München“, in: Unser Bayern. Heimatbeilage der Bayerischen Staatszeitung 46/10 (1997), S. 79-80.
Münster, Robert: „Mozarts letzter Schüler? Zu den Mozart-Erinnerungen des Franz Seraph von Destouches“, in: Acta Mozartiana 45 (1998), S. 10-17.
Rheinfurth, Hans: Musikverlag Gombart Basel-Augsburg (1789-1836), Tutzing 1999, S. 192-194.
Schaefer, Albert: Historisches und systematisches Verzeichnis sämtlicher Tonwerke zu den Dramen Schillers, Goethes, Shakespeares, Kleists und Körners, Leipzig 1886, S. 30, 47-48, 61-62, 69, 75.
Schmidt, Beate Agnes, „Musikalische Experimentier- und Schauspielpraxis auf der Weimarer und der Berliner Bühne“, in: Musik und Theater um 1800. Konzeptionen – Aufführungspraxis – Rezeption. Herausgegeben von Detlef Altenburg und Beate Agnes Schmidt, Sinzig 2012, S. 179-219, hier bes. S. 191-202.
Wolf, Ludwig: „Die Familie des Komponisten Franz Seraph Destouches (1772-1844), Haydns Schüler in Wien und Schillers Freund in Weimar“, in: Musik in Bayern 51 (1995), S. 93-117.
Zu Erlangen im späten 18. und im frühen 19. Jahrhundert und zur Markgräfin Sophie Caroline (1737-1817)
Endres, Rudolf: Art. Sophie Caroline Marie, in: Erlanger Stadtlexikon. Herausgegeben von Christoph Friederich, Berthold Freiherr von Haller und Andreas Jakob, Nürnberg 2002, S. 643-644.
Ertel, Arno: Theateraufführungen zwischen Thüringer Wald und Altmühl im Aufbruch der deutschen Klassik, (Neujahrsblätter, herausgegeben von der Gesellschaft für Fränkische Geschichte 30 ), Würzburg 1965.
Ertel, Arno: „Erlanger Theaterleben in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts“, in: Jahrbuch für Fränkische Landesforschung 25 (1965), S. 89-113.
Hofmann-Randall, Christina: „Die Bibliothek der Markgräfin Sophie Caroline. Die Privatbibliothek einer Fürstin des 18. Jahrhunderts in der Universitätsbibliothek Erlangen-Nürnberg“, in: Bibliotheksforum 11 (2017), S. 188-191.
Jean Paul, Erlangen und die „Alexandrinische Universität“. Herausgegeben von Gunnar Och und Georg Seiderer, Erlangen 2013.
Keunecke, Hans-Otto: „Markgräfin Sophie Caroline von Brandenburg-Bayreuth (1737-1817)“, in: Das Schloss Erlangen als Witwensitz (1712-1817). Katalog. Herausgegeben von Christina Hofmann-Randall, Erlangen 2002, S. 101-138, sowie im Katalog S. 237-284.
Pongratz, Adolf: Musikgeschichte der Stadt Erlangen im 18. und 19. Jahrhundert, Diss. Erlangen 1957.
Reichold, Helmut: „Sophie Caroline Marie von Brandenburg-Bayreuth (1737-1817). Die ‘Erlanger Markgräfin’. Eine biographische Skizze“, in: Jahrbuch des Historischen Vereins für Mittelfranken 77 (1957), S. 159-227.
Rupprecht, Margarete: Die Klavierbauerfamilie Schiedmayer. Ein Beitrag zur Geschichte des Klavierbaues, Diss. Erlangen 1954.
PROGRAMM DES MUSIKVIDEOS
Sonate op. 1 Nr. 2, aus den Trois Sonates pour le Clavecin ou Forte-Piano „composées par M. F. Destouches, élève de M. J. Haydn“, Œuvre 1ère. Offenbach: J. André [1792]
I. Allegro di molto 00:00
II. Adagio 09:11
III. Rondo (allegro) 15:05
Joseph Haydn (1732-1809)
Pièces favorites de l’Oratoire La création [Die Schöpfung], arrangées pour le Piano Forte avec Violon ad libitum. Offenbach, J. André [1802]
Nr. 4 18:50
Franz Seraph Destouches (1772–1844)
Pot-Pourri aus der Bühnenmusik zur Uraufführung des Schauspiels Wilhelm Tell von Friedrich Schiller (Weimar, 17. März 1804) „für’s Piano forte eingerichtet“ durch den Komponisten selbst op. 14. Augsburg: Gombart’sche Musikhandlung [1806] (Rheinfurth, Musikverlag Gombart, Nr. 145)
21:05
Joseph Haydn (1732-1809)
Pièces favorites de l’Oratoire La création [Die Schöpfung], arrangées pour le Piano Forte avec Violon ad libitum. Offenbach, J. André [1802]
Nr. 1 25:24
Franz Seraph Destouches (1772–1844)
Fantaisie pour le Piano Forte, composéé et dédiée à Mlle Wilhelmine de Koch op. 10. Augsburg: Gombart et Compagnie [1798] (Rheinfurth, Musikverlag Gombart, Nr. 148)
Poco andante, quasi allegretto 28:50
Rondò (allegro di molto) 31:58
Alena Hönigová, Fortepiano Walter/Ibach
Prag, 2023
DANKSAGUNG
Dieses Video wurde durch die großzügige Unterstützung der Stadt Erlangen ermöglicht, der wir herzlich dafür danken.
Wir möchten auch folgenden Institutionen und Personen unseren Dank aussprechen:
Bad Homburg, Stadtarchiv (B. Datzkow-Neider)
Dessau-Roßlau, Stadtarchiv
Erlangen, Stadt, Kulturförderung (V. Gelius)
Erlangen, Stadtarchiv (K. Geisler, M. Rhein)
Erlangen, Stadtbibliothek (Dr. A. La Salvia, M. Neumann)
Erlangen, Universitätsbibliothek Erlangen-Nürnberg (Dr. C. Hofmann-Randall, E. Dlugosch, G. Glaeser)
München, Münchner Stadtbibliothek (H. Nachtrab)
Über den Autor
Michele Camillo Ferrari ist ein Mittellateinischer Philologe und Professor an der FAU Erlangen-Nürnberg. Zudem ist er als Konzert- und Opernkritiker tätig.
Über die Musikerin
Alena Hönigová tritt als Solistin auf dem Cembalo und Fortepiano auf, ist aber auch eine gefragte Continuo-Spielerin.
Redaktion
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