Endlich wieder eine Re:publica in real. Die Redner*innenliste klang sensationell. Ich freute mich auf den geistigen Input, den Austausch sowie die neue Location an der Spree. Und bekam viel mehr als ich erwartet habe. Ein Rückblick auf 13 Sessions mit Buchtipps.
Doch vorab: Was ist die Re:publica eigentlich? Ursprünglich ein Treffen für Blogger, ist die Re:publica heute eine Gesellschaftskonferenz für alle, die sich für die großen gesellschaftlichen Fragen unserer Zeit interessieren. Thematisch geht es weit über Digitalisierung, Internet und Netzpolitik hinaus. In Krisenzeiten von Klimawandel, Ukraine-Krieg, Pandemie und Desinformation wird die Frage nach dem „Wie weiter“ neu verhandelt. 400 Veranstaltungen boten reichlich Stoff zum Nachdenken und Diskutieren.
1. Geht nicht gilt nicht
Die Re:publica begann mit der eindrücklichen Eröffnungsrede von Maja Göpel. Die Frage nach dem „Wie weiter“ beantwortete sie so: Es braucht eine Wende im Großen, eine andere Normalität. Wir müssen uns die Wohlstandsfrage neu stellen. In einer Welt mit vielen Menschen und einem hohen Pro-Kopf-Umsatz garantiert nur eine gute Behandlung der Natur Sicherheit und Stabilität. Verwüstung ist nicht sinnvolles ökonomisches Wirtschaften. Qualitätssicherung im 21. Jahrhundert bedeutet: Hohe Lebensqualität bei geringen Ressourcenverbrauch. Maja Göpel ist überzeugt: Die Nachhaltigkeitswende kann ökonomisch und technologisch gelingen, wenn die Gesellschaft mitmacht, also wir alle Verantwortung für das Gemeinwohl übernehmen, auch wenn dies in manchen Bereichen mit Verzicht einhergehen mag.
Buchtipp:
2. In Bewegung bleiben
Damit Menschen mitgestalten können, brauchen sie den freien Zugang zu Informationen. Hier sind Bibliotheken gefragt, aber auch die Wikimedia Foundation. Der Trägerverein der Wikipedia und deren Schwesterprojekte waren auf der Re:publica präsent. Neben persönlichen Gesprächen mit Wikipedianer*innen hörte ich mir auch den Vortrag von Nicole Ebber an. Sie berichtete von einem zweijährigen globalen und partizipativen Strategieprozess, der das Ziel hatte, Macht und Geld innerhalb der Wikimedia Foundation gerechter zu verteilen. Das Ergebnis ist ein (nicht radikaler) Konsens, dokumentiert unter 2030.wikimedia.org.
Buchtipp:
3. Resilienz in Krisenzeiten (und die Maskenfrage)
Eva Horn hat als Social-Media-Redakteurin für Nachrichtenportale schon alles gesehen. Sie gab hilfreiche Tipps, wie Menschen trotz belastender Meldungen und Situationen mental stabil bleiben. Eine Rolle spielt dabei die sogenannte Ambiguitätstoleranz – die Fähigkeit, Zweifel und Widersprüche zu ertragen. Zum Beispiel, wenn wir feiern, obwohl nicht weit von uns entfernt Krieg herrscht. Oder wenn manche Masken tragen, andere nicht.
Bei der Maskenfrage musste ich tatsächlich viel Ambiguitätstoleranz aufbringen. Die vielfach vorgetragene Bitte der Veranstalter, zum Wohle aller eine Maske in den Innenräumen zu tragen, wurde von einem Teil der Besucher*innen ausdauernd ignoriert. Ein Widerspruch, den ich nicht auflösen, sondern nur (schwer) aushalten konnte.
4. Einige Menschen sind trans* – Deal with it
Berührt hat mich die Session mit Henri Jakobs und Tessa Ganserer. Die Nürnbergerin Tessa Ganserer ist seit 2021 Mitglied des Deutschen Bundestages. Ihr ging es nie darum, eine Identität zu finden, sondern sie selbst sein zu können. Die Darstellung von geschlechtlicher Vielfalt im Film und Fernsehen ist nach wie vor eine Zumutung. Trans* Menschen werden entweder als Witzfiguren oder als Psychopath*innen dargestellt. Es fehlen Figuren, bei denen das trans* zu sein nebensächlich ist, positive Rolemodels, die Mut machen, sich selbst zu akzeptieren.
5. Social Media Recht
Der Saison-Rückblick mit den Juristen Henning Krieg und Thorsten Feldmann ist ein Klassiker auf der Re:publica und ein Muss für Social-Media-Redakteur*innen. Besonders interessant waren folgende Aspekte:
- Ein Lesetipp ist keine Werbung – selbst dann nicht, wenn es sich um ein Buchgeschenk handelt. Warum? Die Empfehlung ist „sachlich veranlasst“, weil es sich ja tatsächlich um ein gutes Buch handelt.
- Wenn keine Gegenleistung erfolgt, ist das Loben von Produkten grundsätzlich keine Werbung.
- Bei Accountsperren ist der Weg zum Anwalt am erfolgversprechendsten. Dieser stellt Widerspruch bei Plattformbetreibern. Bei privater Initiative passiert in der Regel nichts.
- Der neue „Pastiche“-Paragraph im UrhG gibt mehr Freiheit im Umgang mit Vorlagen. Beispiel Bookface: Das Buchcover wird auf kreativ-künstlerische Weise in einen Kontext gesetzt und damit Teil eines eigenständigen Werkes.
6. Lehren aus dem Informationskrieg
Tag 1 klang für mich mit einem exzellenten Vortrag des Medienwissenschaftlers Bernhard Pörksen aus. Er erzählte die Geschichte von Misha Katsurin, der in Kiew lebt und zu Kriegsbeginn mit seinem Vater in Russland telefoniert. Katsurin berichtet dem Vater von den Zuständen, doch dieser glaubt nicht, dass sein Sohn in Gefahr ist, denn so sagt er: „Es gibt keinen Krieg. Das habe er selbst im Fernsehen gesehen.“ Er glaubt der russischen Propaganda mehr als seinem Sohn. Doch Katsurin gibt nicht auf und startet die Initiative “Papa, believe”. Auf der Webseite papaover.com gibt es Tipps für Betroffene im Umgang mit russischen Verwandten und den Rat niemals den Kontakt abzubrechen. Laut Pörksen ein Meisterstück der psychologischen Intervention, welches als Vorbild für die politische Kommunikation dienen kann.
Wie erreicht man diejenigen, die man nicht mehr zu erreichen glaubt? Indem wir als Türöffner Brücken bauen und Empathie wecken. Wie kommt man vor die Desinformation? Indem Akteure wie Regierungen oder Medien nicht nur reagieren, sondern präventiv aufklären, bevor sich die manipulierten Informationen Bahn brechen. Wie gelingt Medienbildung als präventiver Demokratieschutz? Laut Pörksen braucht es eine Graswurzelbewegung der Medienbildung, die nicht auf die lethargisch agierende Schulpolitik wartet. Er sieht Journalist*innen an vorderster Front, die in Schulen gehen und Kinder und Jugendliche mit Kulturtechniken wie Quellencheck vertraut machen. Dazu noch eine Anmerkung: Auch Bibliotheken halten Angebote zur Förderung von Medien- und Informationskompetenz von Jugendlichen bereit, z.B. das Planspiel FakeHunter.
Buchtipp:
7. Komplexität und Kollaboration
Tag 2 der Re:publica beginnt mit Dirk Brockmann, einem Physiker, dessen Modellierungen zur Ausbreitung von SarsCov2 ich seit der Pandemie aufmerksam verfolge. Nicht alles in seinem Vortrag zur Komplexitätsforschung hat sich mir intuitiv erschlossen. Mitgenommen habe ich folgende Aussage: „If you are the smartest person in the room, you are in the wrong room”. Du lernst also vor allem in jenen Bereichen, in denen du noch wenig Wissen hast. Und es lohnt sich immer, Fragen zu stellen und Sachverhalte unvoreingenommen zu betrachten.
Buchtipp:
8. Alles ist sinnlos
Ralph Caspers, vielen bekannt aus der Sendung „Wissen mach Ah!“ schaffte es, mich zu verwirren. Seit dem frühen Tod seines Vaters suchte er nach versteckten Botschaften, etwa in Autokennzeichen. Er fand sie und meint dennoch: Alles ist bedeutungslos. Allein unser Gehirn gibt den Dingen Bedeutung, sozusagen als „Sinnbildungsmaschine“. Wenn ich Caspers richtig verstanden habe, ergibt sich daraus folgender Gedankengang: Wir müssen nicht nach dem Sinn des Lebens suchen, der so nicht existiert. Das verändert die Perspektive: Wir können großmütiger sein und unserem Leben selbst einen Sinn geben. Denn „Nichts ist sinnvoll.“ Verstanden? 🙂
Buchtipp:
9. Das Coronavirus-Update
Als treue Hörerin der ersten Stunde habe ich mir die Gelegenheit nicht nehmen lassen, Korinna Hennig und Katharina Marenholtz live zu erleben. Sie berichteten vom Start und der anschließenden Entwicklung des Podcasts. In manchen Zeiten kamen bis zu 2.000 Mails pro Tag. Damit hat der Podcast augenscheinlich ein Informationsbedürfnis der Bevölkerung gedeckt, auf welches die Informationspolitik der Regierung nicht ausreichend eingegangen ist.
10. Digitalpolitik der Bundesregierung
Selbstverständlich wollte ich hören, was unser Kanzler Olaf Scholz zu sagen hat. Er sprach von digitaler Souveränität und Investitionen in digitale Infrastruktur und Verwaltung. Begonnen hat er seine Rede mit der Aussage „Informationen müssen überall zugänglich sein“. Da habe ich als Bibliothekarin genau hingehört. Denn dies bedeutet für mich auch, dass Bibliotheken (Sachbuch-)Literatur nicht nur als gedrucktes, sondern auch als E-Book erwerben und ausleihen dürfen müssen. Hier sollte unsere Regierung endlich die notwendigen rechtlichen Voraussetzungen für die E-Book-Ausleihe schaffen.
11. Die Revolution der Erschöpfung
Alice Hasters ist erschöpft. Die Gesellschaft ist erschöpft. Die Erschöpfung speist sich aus der Mühe, den unabwendbaren Wandel aufhalten zu wollen. Genau wie Maja Göpel spricht sich Alice Hasters in ihrem Vortrag für einen echten Neuanfang aus. Sie geht aber weiter, indem sie unser kapitalistisches System als Ganzes in Frage stellt. Bedeutet Innovation gleich gesellschaftlicher Fortschritt? Bringt Kapitalismus den Menschen Freiheit? Kann mensch wirklich alles erreichen was er will? Oder heißt es nicht vielmehr: Du kannst alles schaffen… wenn du genug Geld hast? Die Belastungen der Pandemie wurden vor allem von Frauen und armen Menschen getragen. Carearbeit wurde nicht entlohnt, sondern als selbstverständlich betrachtet. Das Argument „Es liegt in der Natur der Frauen, dass sie sich gerne kümmern“ ist ein patriarchales und rassistisches Narrativ. „It’s time to let it go“. Für Alice Hasters ist die Erschöpfung ein Zeichen für das Ende der kapitalistischen Idee, aus dem sich als revolutionärer Akt das Entziehen aus der Verwertungsgesellschaft ergibt.
Buchtipp:
12. Mehrheiten-Mitnehmen ohne Utopie-Syndrom
Zugegeben: Ich bin ein Fan von Gunter Dueck. Ich feiere, wie er Utopisten auf liebevolle Weise den Spiegel vor die Augen hält. Denn manche Debatte auf Twitter oder in den Medien geht an der Realität der Durchschnittsbürger*innen vorbei. Gemäßigte Meinungen sind nicht gefragt. Stattdessen verhärten sich die Fronten bei Reizthemen wie der gendergerechten Sprache immer mehr. Auch durch eine „Von-oben-herab-Kommunikation“. Dabei wird oft übersehen, dass die meisten Menschen nicht böswillig „Gefühle verletzten“, wenn sie bestimmte Dinge (nicht) sagen oder tun. Dueck führt Modelle an, wie Menschen dazu bewegt werden können, ihr Verhalten allmählich zu ändern. Das leider übliche „Washing“ (Beispiel: Unternehmen bestimmt Vielfaltsbeauftragten, sonst ändert sich nichts) verschleiert das Problem nur. Er schlägt vor, statt „hart zu kritisieren“ die „neuen Regeln“ immer wieder zu erklären und vorzuleben. Denn Menschen brauchen Zeit und Informationen für eine Bewusstseins- und Verhaltensänderung. Dueck plädiert für eine tolerantere Kultur, die uns wieder zusammenführt.
Buchtipp:
13. Strategien der Neo-Rechten
Die letzte Session meiner Re:publica war noch mal harter Tobak: Ein hochinteressanter Talk der beiden Forscherinnen Natascha Strobl und Annika Brockschmidt. Sie gaben einen Überblick über Akteure der Neorechten, angefangen bei den religiösen Rechten, über radikalisierte Konservative bis hin zu Ökofaschisten. Die Gefahr liegt darin, dass sich kleine Bewegungen zu einer großen länderübergreifenden faschistischen Struktur zusammenschließen. Doch bei aller Dystopie endete Strobl mit folgenden Worten: „Es kann auch gut werden. Und es muss auch gut werden. Und dafür lohnt es sich auf jeden Fall zu kämpfen.“
Buchtipps:
Und sonst?
Ich schaute auch bei der TINCON – kurz für: teenageinternetwork convention – vorbei. Dort stellte sich u.a. die Ministerin Lisa Paus den Fragen der Jugendlichen. Ich schmunzelte über die “Torten der Wahrheit” von Katja Berlin. Und ich nahm an einem Workshop der Lie Detectors zum Aufdecken von Fake News teil. Dort konnte ich Anregungen und Impulse für die Workshops der Stadtbibliothek Erlangen zum Thema Desinformation und Fake-News erhalten.
Und natürlich nutzte ich die großartige Lage der Locaction, um zwischen den Vorträgen am Beach auszulüften und mit anderen ins Gespräch zu kommen. Was für eine Wohltat im Vergleich zu den digitalen Veranstaltungen der vergangenen Jahre.
Die Re:publica 2022 hat mir richtig viel gegeben. Ich bin sehr dankbar, dass ich dort sein durfte. In meinem Beitrag Re:publica 2018: Raus aus der Filterblase habe ich beschrieben, warum sich ein Besuch auch gerade für Bibliotheksmenschen lohnt.
Habt ihr Lust bekommen, auch mal zur Re:publica zu fahren oder seid ihr schon dort gewesen? Welcher Vortrag hat euch begeistert? Ich freue mich über eure Kommentare!
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Marlene
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