Warum es sich lohnt, sowohl Vorzüge als auch Gefahren des Digitalen Wandels zu sehen
Stell dir vor, du musst nie mehr putzen, weil dein Hausroboter das für dich erledigt. Stell dir vor, du kannst die Hauptfigur deiner Lieblingsserie in jedem Film deiner Wahl mitspielen lassen. Stell dir vor, du musst nie mehr auf den Bus warten, weil dein Smartphone dir automatisch ein autonom fahrendes Elektrofahrzeug direkt vor die Haustür bestellt. Klingt super, oder?
Stell dir vor, du brauchst einen Kredit, aber die Bank lehnt dich ab, weil du vor drei Jahren die falschen Posts auf Facebook gelikt hast. Stell dir vor, du hast eine Fitness-App heruntergeladen und ein Jahr später steigt dein Krankenversicherungs-Beitrag, weil du zu viel Schokolade gegessen hast und zu wenig joggen warst. Stell dir vor, du hast mit einer Freundin ein beliebiges politisches Thema per Mail diskutiert – daraufhin wird jede deiner Konversationen vom Geheimdienst abgehört und analysiert. Klingt furchtbar, oder?
Der digitale Wandel bringt sowohl große Chancen, als auch bedeutende Risiken mit sich. Ihm deswegen mit kategorischer Ablehnung zu begegnen, kritisiert Christian Buggisch in seinem Blogpost Die digitalen Schwarzmaler. Ebenso problematisch ist es, sich ganz der Euphorie für das Digitale hinzugeben und Probleme auszublenden. Wir finden: Es lohnt sich, sowohl die hellen, als auch die dunklen Seiten des digitalen Wandels zu betrachten.
Wer macht was mit unseren Daten?
Dass die oben gezeichnete Dystopie schon lange keine unrealistische Science Fiction mehr ist, wurde in den letzten Jahren deutlich. Wenn wir das Internet nutzen, hinterlassen wir mit jeder Aktivität eine Spur an Informationen: Welche Webseiten wir für wie lange besucht haben, mit wem wir gemailt oder gechattet haben, was wir heruntergeladen haben und wo wir uns befinden. Spätestens seit den Enthüllungen durch Edward Snowden ist bekannt, dass nicht nur Unternehmen, sondern auch Regierungsorganisationen diese personenbezogenen Daten aufzeichnen und analysieren. Es ist nahezu unmöglich geworden, zu kontrollieren, wer welche Informationen sammelt, zusammenfügt und auswertet, sodass wir einen bislang unbekannten Kontrollverlust über die eigenen Daten im Netz erleben. Das bringt unsere Privatsphäre in Gefahr: es ist unmöglich, unsere Gewohnheiten und Vorlieben – ob politisch, religiös, sexuell oder konsumtechnisch – vor den Algorithmen zu verbergen.
Der Chilling Effect oder: Ohne Privatsphäre keine Meinungsfreiheit
Gleichzeitig ändern wir in einer Atmosphäre von Überwachung unbewusst unser Verhalten, es kommt zum sog. Chilling Effect: Studien zeigen, dass sich Menschen in Folge von Überwachung in einem schleichenden Prozess selbst zensieren, um zukünftige Konflikte zu vermeiden. So hat eine Studie der Autor*innen-Vereinigung PEN 2013 ergeben, dass eine*r von sechs Autor*innen vermeidet, über bestimmte Themen zu sprechen oder zu schreiben – aus Angst, Ziel von Überwachung zu werden.
Gleichzeitig ist Privatsphäre ein grundlegendes Menschenrecht, das eine zwingende Bedingung für Informations- und Meinungsfreiheit ist. Wir brauchen die Freiheit, anonym an Information zu kommen, damit wir Wissen generieren und Meinungen bilden können – und damit auch, um an einer demokratischen Gesellschaft teilzuhaben.
Die Gefährdung unserer Privatsphäre im Digitalen ist also eindeutig ein Problem. Ist die logische Konsequenz also der Rückschritt zum Analogen? Ist die Lösung, unser Smartphone in den Müll zu werfen, nur noch per Festnetz und Briefen zu kommunizieren und statt Wikipedia wieder den 20-bändigen Brockhaus zu nutzen? Ich sage: Auf keinen Fall! (Es sei denn, du hast einen riesigen Faible für alte Lexika oder sammelst Briefmarken).
Why we love the internet
Digitale Dienste und technische Errungenschaften erleichtern unseren Alltag, erweitern unseren Horizont und ermöglichen uns neue Formen der Kommunikation: Wir können mit Menschen in Kontakt bleiben, die viele hunderte Kilometer weiter weg wohnen. Wir können im Netz Sprachen, Programmieren und Stricken lernen und Filme anschauen, die unser lokales Kino nicht zeigt. Wir können auf unserem Tablet 30 Bücher und 100 Alben mit in den Urlaub nehmen, uns in einer fremden Stadt mit einer digitalen Karte zurechtfinden und Blogs aus Tokyo, Kapstadt und New York lesen. Es gibt 1001 Gründe, aus denen wir die Möglichkeiten des Digitalen lieben können – hier sei nur ein winziger Bruchteil von ihnen genannt.
Euphorie trotz Selbstverteidigung und Selbstverteidigung trotz Euphorie
Lassen wir uns also die Freude an digitalen Diensten und der Nutzung ihrer Vorzüge nicht verderben – aber geben wir trotzdem unsere Privatsphäre im Internet nicht auf.
- Investieren wir in unsere Privatsphäre, wie Lisa Krammel von Digitalcourage bei ihrem Vortrag in der Stadtbibliothek vorgeschlagen hat.Viele Unternehmen bieten ihre Dienste kostenfrei im Netz an – wir bezahlen dafür mit unseren Daten. Oft gibt es Alternativen, die für einen geringen Betrag gleichwertige Dienste anbieten, aber den Schutz unserer Daten gewährleisten, so z.B. die Mail-Anbieter Posteo oder Mailbox. Zudem gibt es für viele kommerzielle Dienstleistungen (z.B. GoogleDocs) Open-Source-Alternativen (z.B. textbegruenung), deren Nutzung nicht nur unsere Privatsphäre schützt, sondern die es sich auch zu unterstützen lohnt. So müssen wir auf die Annehmlichkeiten der digitalen Dienste nicht verzichten, geben dafür aber nicht unsere Privatsphäre auf.
- Fordern wir von Politiker*innen schnellen und kostengünstigen Internet-Zugang für alle – und gleichzeitig Gesetze, die staatliche Massenüberwachung verbieten und Geheimdienste effektiv kontrollieren.
- Nehmen wir den Schutz der Privatsphäre nicht als notwendiges Übel, sondern als gemeinsames Projekt.
Bringen wir uns auf Cryptoparties (z.B. in der Stadtbibliothek!) gegenseitig bei, wie wir unsere Mails verschlüsseln und anonym im Netz surfen. Etablieren wir in unserem Freundeskreis Messenger, die Open Source und Ende-zu-Ende-verschlüsselt sind. Vermitteln wir in Schulen, Universitäten, Bibliotheken, Kaffeekränzchen und Unternehmen Datensparsamkeit und Verschlüsselung, bis sie so selbstverständliche Skills sind wie telefonieren und Kaffee kochen. Und tauschen wir uns gleichzeitig mit Enthusiasmus über digitale Dienste und technische Neuerungen aus, die uns bereichern.
Bleiben wir neugierig und offen für die Chancen des digitalen Wandels – und hinterfragen gleichzeitig, welche Implikationen diese für unsere Privatsphäre und Meinungsfreiheit haben.
Katharina
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