Zum Tag der Deutschen Einheit 2023 war der Autor, Lyriker und frühere DDR-Dissident Lutz Rathenow zu Gast in der Stadtbibliothek Erlangen. Im Gespräch mit Bibliotheksleiter Adrian La Salvia blickte er auf ein Leben zwischen Literatur, Bürgerrechtsbewegung und Stasi-Überwachung zurück – voller Widersprüche, Humor und Widerstandskraft. Anlass war seine jüngste Werkauswahl Trotzig lächeln und das Weltall streicheln (Texte von 1974–2023), die zeigt, wie vielfältig und ungebrochen seine Stimme bis heute ist.
Adrian La Salvia (ALS)
(an das Publikum gerichtet)
Zu seinem 70. Geburtstag blickt der 1952 in Jena geborene Lutz Rathenow auf sein facettenreiches Leben zurück. Jeder andere hätte eine ganz normale Autobiografie geschrieben. Nicht so Lutz Rathenow. Der Autor, Lyriker und DDR-Dissident spielt mit dem Genre der Autobiografie. Herausgekommen ist eine Art „Lebensbesichtigung“ in kaleidoskopartigen Prosa-Puzzlestücken, „die auf sich selbst neugierig ist und etwas präsentiert, was man als widersprüchliche Persönlichkeit bezeichnen kann“.
Mehrfach wurde Rathenow verhaftet: 1976 nach der Ausbürgerung Wolf Biermanns und 1980 nach der Veröffentlichung seines Buches „Mit dem Schlimmsten wurde schon gerechnet“ in der BRD.
Lutz Rathenow (LR)
Oh, was passiert? Es regnet auf mein Buch. Das freut mich. Das war in Leipzig auch immer so, in Jena gelegentlich auch, dass es durch die Dächer regnete. Ein Gruß, dass auch hier nicht alles perfekt sein kann.
ALS
Mit dem Schlimmsten wurde schon gerechnet.
(an das Publikum gerichtet)
Wir waren bei der zweiten Verhaftung. Christa Wolf, Günter Grass und andere setzten sich für seine Entlassung ein. Trotzig lächelnd blieb er in der DDR und engagierte sich in der unabhängigen Friedens- und Bürgerrechtsbewegung. 2011 wurde er mit einer Stimme Mehrheit zum Sächsischen Landesbeauftragten zur Aufarbeitung der SED-Diktatur ernannt. Seine eigene Stasi-Akte umfasst über 15.000 Seiten. Ein Leben im Schatten der Stasi, auch als es sie nicht mehr gab. Ein Leben zwischen Kunst und Politik – vom DDR-Grenzsoldaten zum Bürgerrechtler.
Vor einigen Wochen habe ich Lutz Rathenow in Berlin in seiner Wohnung am Straußberger Platz besucht. Ich hatte schon lange gehofft, irgendwann einmal einen dieser Turmbauten von Hermann Henselmann von innen besichtigen zu können. Dank Lutz Rathenow ist es mir nun gelungen.
Von den verschiedenen Fenstern seiner Wohnung aus sieht man im Uhrzeigersinn hinüber zum Alexanderplatz, zum Prenzlauer Berg, dem Zentrum der inoffiziellen Literaturszene in der DDR, nach Lichtenberg-Marzahn, zum Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen, in dem er selbst inhaftiert war, oder nach Kreuzberg in den Westteil der Stadt, auch das eine wichtige Station für ihn und seine Frau. Zu Füßen rollt der Verkehr über die Karl-Marx-Allee / Frankfurter Allee, wo der Volksaufstand des 17. Juni 1953 seinen Ausgang nahm. Wenn Orte etwas über Menschen aussagen, dann gibt es sicher keinen passenderen Wohnort für Lutz Rathenow als hier im Herzen Berlins, im Zentrum deutscher Geschichte. Noch dazu, wenn man bedenkt, dass ein Stockwerk über ihm Franz Fühmann wohnte.
So viel zur Orientierung. Sie können sich jetzt selbst in diese Wohnung voller Bücher und Bilder hineinversetzen.
Ich könnte jetzt viele Veröffentlichungen von Lutz Rathenow aufzählen, aber das will ich gar nicht, und möchte stattdessen Lutz Rathenow bitten, dass er Ihnen ein Gedicht vorträgt.
LR
Ja, ich lese ein Gedicht vor, in dem nur Buchtitel verwendet worden sind, „Zwischenbilanz“. Es sind in der Zwischenzeit noch ein paar neue hinzugekommen, aber das reicht schon fürs Erste.
Zwischenbilanz
oder Gesamtausgabe Minimalvariante
dem hastigen Leser gewidmetMit dem Schlimmsten wurde schon gerechnet.
Zangengeburt. Boden 411. Der Wolf und die
widerspenstigen Geißlein. Ein seltsamer Zoo.
Tiger im Hochhaus. Floh Dickbauch.
Eine Ameise spazierte. Ostberlin –
die andere Seite einer Stadt. Tag der Wunder.
Jeder verschwindet so gut er kann. Sterne
jonglieren. Im Lande des Kohls. Zärtlich
kreist die Faust. Und sie liebten sich
heftiger den je. Oder was schwimmt da
im Auge. Die lautere Bosheit. Alles Theater.
Mit dem Schlimmsten wurde schon gerechnet.
ALS
Wie Sie bemerkt haben, ist Lutz Rathenow ein Meister der packenden Titel und der ersten Sätze.
Trotzig lächeln und das Weltall streicheln
ALS
Das Buch, mit dem wir uns im Folgenden beschäftigen wollen, trägt den schönen Titel „Trotzig lächeln und das Weltall streicheln“, eine Werkauswahl mit zum Teil unveröffentlichten Texten aus den Jahren 1974 bis 2023, ein Konglomerat aus sehr unterschiedlichen Texten und Erzählweisen, die aber gerade in ihrer Unterschiedlichkeit das Profil des Autors sehr deutlich hervortreten lassen, angefangen mit „Der Hampelmann“, einer Kindheitserinnerung aus dem Jahr 1974, bis zu dem erstveröffentlichten „Verzettelungsroman“ „Die Rätsel von Dresden“ (2023), den wir zum Abschluss hören werden.
Wenn ich die Texte charakterisieren sollte, würde ich ein unfreiwillig komisches Stasi-Gutachten zitieren (auch das gab es):
Anleihe wird auch bei Franz Kafka genommen, dessen antifaschistischer Ansatz ist jedoch ins Gegenteil verkehrt. In surrealistisch-unlogischer Weise wird ein Programm der konterrevolutionären Brutalisierung abgewickelt. Als Rathenow-Leser kommen vor allem in Betracht anarchistische, intellektuell bürgerliche, aber auch asoziale und deklassierte Jugendliche aus anderen Gesellschaftsschichten. Wir sollten den potentiellen Leserkreis nicht für zu begrenzt halten. Die literarische Wirksamkeit könnte im Sinne der Schockwirkung beträchtlich sein.
Lutz Rathenow, was denken Sie heute, wenn Sie das hören?
LR
Ja, das ist doch eine fast schon traumatische Schriftüberschätzung des Bedeutungsmehrwertes, den Literatur in der DDR natürlich hatte. Das hängt vielleicht ein bisschen damit zusammen, dass das politische System mit seinen Grundstrukturen glaubte, auf der Basis von Schriften entstanden zu sein, und meinte, das seien die von Karl Marx und Friedrich Engels – Lenin lassen wir jetzt mal außer Acht –, und hat den Realsozialismus als Schriftverwirklichungsgesellschaft betrachtet. Und der potenzielle Feind war immer die Schrift, dann der Schriftsteller, oder der, der es noch werden sollte – am besten, den zu erkennen, der noch keinen Satz geschrieben hat, aber zu ahnen, herauszufinden, was er noch schreiben wird. Also dieses Gutachten ist wirklich interessant und gleichzeitig ein Ausdruck von Paranoia.
ALS
Diese Schriftüberschätzung hatte ihre Vor- und Nachteile. Wir werden später noch einen Text dazu hören.
Interessant ist auch die Erscheinungsweise Ihrer Texte. Sie haben die DDR sozusagen „vom Westen her“ aufgerollt. Ihre frühen Texte sind fast ausschließlich in westdeutschen Verlagen, Zeitungen und Zeitschriften jeglicher politischer Orientierung (Piper, Ullmann, FAZ, taz, Welt u. a.) erschienen. Diese Publikationsstrategie gab Ihnen auch eine relative Sicherheit, nicht verhaftet oder ausgebürgert zu werden, während Sie alle Ausreiseangebote seitens der DDR-Obrigkeit standhaft ablehnten.
LR
Die ganz frühen Texte, die ganz, ganz frühen, sind auch in der DDR erschienen, in Anthologien der Jugendlyrik. „Offene Fenster“ hießen die. Und es gibt ein Archiv mit hunderttausend Gedichten in Jena in der Universitätsbibliothek. Das ist einzigartig. Ich habe erst vor kurzem dort in Briefwechseln gelesen von Autoren wie Jürgen Fuchs, Richard Pietraß und anderen wie Thomas Rosenlöcher oder Lutz Seiler, der gerade den Büchner-Preis erhalten hat. Also, es ist schon ganz spannend, dass es doch auch in diesem Buch, in diesen ersten Texten, einige gibt, die noch in der DDR erschienen sind oder in der evangelischen Anthologie, und dann ist aber völlig richtig, was Sie sagen. Dann kamen andere Orte. Das einzige DDR-Literaturmagazin, das es gab, war das im Hessischen Rundfunk. Es hieß „Transit“ und wurde von Karl Corino, dem Musil-Forscher, herausgegeben. Er war auch ein Exil-DDR-Bürger. Und das erste Westgeld habe ich 1978 auf der Leipziger Buchmesse verdient, indem er mir ein Auftragswerk gab für eine Weihnachtsgeschichte. Das wurde dort auch eingelesen, sodass sich ein Teil der literarischen Auseinandersetzung in den ARD-Hörfunk plus RIAS, der nicht ARD war, verlagerte. Damals hatte der Rundfunk eine wahnsinnig wichtige Position, da gehörte auch der Bayerische Rundfunk dazu. Ich missbrauche das jetzt für noch einen aktuellen propagandistischen Satz: Ich bedaure es sehr, dass die Sendung „Jazz und Politik“ auf Bayern 2 Ende dieses Jahres ersatzlos abgewickelt wird, wie andere Teile des Wortprogramms. Ich weiß aber auch, dass das inspiriert wird von einer Programmstruktur aus dem Osten. Sie machen es jetzt so wie der MDR, der auch kein Geld für freie Mitarbeiter hat, für einzelne Magazine mit eigenverantwortlichen Redakteuren – wie zum Beispiel der grandiuose Schriftsteller Lukas Hammerstein für „Jazz und Politik“. Ein durchmagaziniertes Programm kommt schon aus dem osten, rbb und mdr, ein gewisser Osteinfluss, der nicht als solcher wahrgenommen wird. Dazu dann die Podcast-Kultur, das ist widersprüchlich.
ALS
Sie haben Ihre frühen Gedichte angesprochen, die in dem „Arbeitskreis für Literatur und Lyrik Jena“ entstanden sind, den Sie 1973 gegründet haben und der ein Jahr später de facto verboten wurde. Ich denke, dieser Arbeitskreis stand auch für eine neue Generation des lyrischen Sprechens. Ich zitiere: „Es gab in meiner Generation ein starkes Bedürfnis, sich der durch Alltagsrede und politischen Missbrauch ausgeleierten Sprache zu entziehen.“ Ich könnte nun die umgekehrte Frage stellen: Hat Zensur Ihre Sprache verfeinert, diente das Verschlüsselnmüssen vielleicht sogar dem Differenzierungsvermögen?
LR
Das ist eine sehr logische und interessante Frage. Ich glaube, in der Summe eher nicht. Ich habe diese Frage mal in einer Interpretation verarbeitet, übrigens auch für den Bayerischen Rundfunk; 10 Minuten Gedichtinterpretation anhand des Gedichtes „Monolog eines englischen Untertanen“. Das war damals noch richtig Schulfunk. Und der Redakteur war damals sehr penibel. Ich musste mehrfach nacharbeiten mit den Nebensatzbetonungen. Und die Zensur hat mitunter zur Sensibilität beigetragen, aber in anderen Punkten nimmt sie natürlich auch durch diese Extraaufladung des Bedeutungsmehrwerts etwas zurück von der Unbefangenheit und Normalität.
Da muss man genau gucken, was Zensur eigentlich ist. Das Hauptproblem in der DDR war nicht die Zensur, sondern eine Befangenheit, die hervorging aus der Kontrolle der Veröffentlichung durch verschiedene Ebenen, die eigentlich im Vorfeld der Zensur stattfand, denn eine formelle Zensur gab es nicht, aber eine Pro-Genehmigungspraxis, die sozusagen die Verleger, die Verleger bleiben wollten, dazu brachte, bestimmte Bücher nicht zu machen, wobei sie sich dann mitunter in vielen Gesprächen beim Kulturminister vergewissert haben, auch für Autoren gekämpft haben. Das ist schon ein sehr diffiziler Vorgang.
ALS
Christoph Dieckmann spricht sehr schön von dem „literarischen Erlaubniswesen der DDR“. Sie gerieten früh ins Visier der Stasi. Vielleicht könnten wir hier noch einige Gedichte einstreuen, in denen, zumindest in einem Text, die Sprache der Stasi explizit anklingt. Der Titel des Gedichtes ist „Begründung meiner Exmatrikulation“. 1977, drei Monate vor Ihrem Examen, wurden Sie, wie viele andere Künstler und Intellektuelle auch, zwangsexmatrikuliert. 1992 wurde Ihnen nachträglich das Abschlussdiplom verliehen.
LR
Erst mal das Gedicht, das sehr simpel ist, aus meinem ersten Gedichtband „Zangengeburt“, 1982 im Piper Verlag erschienen. Vielleicht sogar das einfachste, nur eine Realcollage:
Begründung meiner Exmatrikulation
(März siebenundsiebzig)Erstens Objektivismus
Zweitens Zweifel
an ideologischen Grundpositionen
Drittens Intellektualisieren der Probleme
& weil
ich zum ideologischen Hemmschuh
der Seminargruppenentwicklung geworden bin
Aus dieser Zeit der Exmatrikulation ein Gedicht aus dem Jahr 1976.
Ich trage jetzt noch zwei Gedichte nach, weil das alleine würde meine lyrische Gestaltungskraft nicht hinreichend ausdrücken. Aus dem Jahr 1976 „Ich könnte“, wiedergefunden dieses Jahr:
Ich kann den Mond anbellen bis er blau anläuft
Ich kann auf das Messer fluchen bis sich meine Stimme versteckt
Ich kann in der Gegend rumspucken bis alles im Speichel ersäuft
Ich kann was ich meine herausschreien bis der Wagen vor meiner Haustür stoppt
Und zu diesem Gedicht gibt’s ein Gegengedicht, 2023 geschrieben. „Leise“. Beide werden dann in der Zeitschrift „Das Gedicht“ von Anton G. Leitner, Weßling bei München, dieses Jahr erscheinen.
Ich kann mit der Stille einer Wohnung spielen,
sortiere die Geheimnisse der Blätterstapel neu.
Ich kann mit meinem Rücken knacken, er verrät
Botschaften über den Zustand der Wirbelsäule.
Jenseits des Fensters ein Stummfilm, das Summen
einer Welt, die ihre Laute nicht verschleudert.
Ich kann was ich kann: ein Geheimnis behalten,
für mich. Bis es allmählich der Körper vergisst.
ALS
Ich sehe, es tropft immer weiter …
LR
Aber es tropft an mir vorbei. Friedliche Koexistenz. Das halten wir durch.
ALS
Ich glaube, man kann gar nicht über Ihre Lyrik sprechen, ohne auch die Kinderbücher zu erwähnen. Die Kinderliteratur zieht sich wie ein roter Faden durch Ihr schriftstellerisches Werk. Man nimmt Sie, glaube ich, nicht in erster Linie als Kinderbuchautor wahr, aber Sie sind es, und Sie haben ganz wunderbare Kinderbücher geschrieben. Ich nenne stellvertretend:
- „Eine Ameise spaziert“, mit Illustrationen von Lothar Otto (1990)
- „Tag der Wunder“, mit Illustrationen von Frank Ruprecht (1992)
- „Der Himmel ist heut blau. Lustig listige Gedichte und Geschichten“, mit Illustrationen von Egbert Herfurth (2000)
- „Ein Eisbär aus Apolda“, mit Illustrationen von Egbert Herfurth (2006)
- „Der Elefant auf dem Trampolin. Gedichte zum Größerwerden“, mit Illustrationen von Egbert Herfurth (2017) u. a.
Woher kommt dieses Interesse an der Kinderliteratur?
Ich kann mir vorstellen, dass es auch etwas mit Ihrer Lesesozialisation zu tun hat. Sie lasen viel in Kirchen und Wohnungen vor einem jungen Publikum.
LR
Bei der Vorlesesozialisation in Wohnungen oder in der offenen Jugendarbeit in Kirchen eher nicht, wohl aber mit der Rolle der Kinderliteratur in der DDR, die doch auch für viele arrivierte Schriftsteller enorm wichtig war, wie zum Beispiel Sarah Kirsch, Rainer Kirsch, Peter Hacks darf man hier nennen, Franz Fühmann, ein wunderbarer Autor, der wirklich ernst zu nehmende, sehr interessante Bücher geschrieben hat. Und manche Autoren haben, wenn sie Schwierigkeiten hatten, mit einem Kinderhörspiel oder mit Arbeiten für Kinder, die vermeintlich vielleicht nicht ganz so komplex waren, auch Schwierigkeiten überbrückt. Ich habe mit der Ambivalenz gespielt, ich habe manchmal versucht, mich zu entspannen, und ich lese einen ganz kurzen Text vor, denn in diesem Buch „Trotzig lächeln und das Weltall streicheln“ sind auch Kindergeschichten drin. Die habe ich da versteckt. Ich weiß, das ist sehr merkwürdig, das macht man nicht. Kinder- und Nicht-Kinderliteratur sind heute strenger getrennt als das noch zu DDR-Zeiten war. Aber diesen „Eisbär aus Apolda“, den gibt es nicht nur als Bilderbuch, den gibt es auch als Minigeschichte hier in diesem Buch, nach „Der Wolf und die widerspenstigen Geißlein“.
Ein Eisbär aus Apolda
Ein Eisbär aus Apolda will nach Obervolta.
Auf dem Weg zum Bahnhof vergisst er den genauen Namen des Landes, in das er will. „Nach Oberscholda“, sagt der Eisbär.
„Wie bitte?“, fragt die Kartenverkäuferin.
„Opa-soll-da“, entgegnet der Eisbär.
„Aperkohlda?“
„Nicht kohl da, voll da“, korrigiert der Eisbär, „Appvollda“.
„Ach, Apolda!“ ruft die Kartenverkäuferin.
„Ja“, bestätigt zögernd der Eisbär.
„Aber da sind sie doch schon!“ Die Kartenverkäuferin lacht.
„Aha“, brummt der Eisbär und verlässt befriedigt den Bahnhof.
ALS
An solchen Geschichten werden nicht nur Kinder ihre helle Freude haben.
Ihre Kinderbücher zeichnen sich noch durch eine andere Eigenschaft aus, sie sind nämlich alle ganz wunderbar illustriert von Egbert Herfurth und anderen. Das führt mich zu einem anderen Bereich in Ihrem schriftstellerischen Werk, nämlich zu den Künstlerbüchern.
Es sei in diesem Zusammenhang daran erinnert, dass es in der ehemaligen DDR gerade im Bereich der originalgrafischen Künstlerbücher ganz eigene Spielformen der visuellen Poesie gab, die es ermöglichten, kritische Texte an der Zensur vorbei zu veröffentlichen. So war es bildenden Künstlern nach dem Künstler-Honorargesetz von 1971 erlaubt, auch nonkonforme Arbeiten bis zu einer Auflage von 99 Exemplaren zu vervielfältigen und auszustellen, ohne die Zensur durchlaufen zu müssen. Das erklärt auch den hohen Stellenwert, den die visuelle Poesie und Mail-Art in der DDR hatten.
LR
Ja, diese Faszination, diese Wechselwirkung, die es mit der bildenden Kunst gegeben hat, die wirkt heute auch an bestimmten Orten besonders intensiv nach. Das merkt man auch bei Ausstellungskonzeptionen oder auch bei dieser Zeitschrift „Palmbaum“ aus Jena, für die ich heute Mittag schon mal versucht habe zu werben, neben der „Gerbergasse“ aus Jena, die allein durch ihre Titelbildgestaltung und durch die Mischung von Interviews und Künstleranalysen aus diesem Kreis der ungehorsam bis außenseiterhaft in irgendeiner Form innerhalb der DDR liierten Künstler wirklich einen ganz spezifischen Ansatz hat – in einer Intensität und Vielheit, die im Grunde diese Ergebnisse fortsetzt, während heute natürlich schon auch andere Ästhetiken auch in der Buch- und Grafikherstellung benutzt werden. Das nächste Heft von „Palmbaum“ wird sich dem Comic widmen. Wie einige dieser Künstler aus der DDR quasi jetzt auch in comicähnliche Formen, Graphic Novel oder anderes, hineinschlittern oder mit diesen eigenwillig arbeiten, das ist sehr spannend. Ich finde diese Entwicklung sehr eigen, sehr interessant und auch mit anderen osteuropäischen Ländern sehr spannend zu vergleichen.
ALS
Ein Buch möchte ich nicht unerwähnt lassen in diesem Zusammenhang: den Bildband „Ostberlin“ mit Fotografien von Harald Hauswald, „ein ethnologischer Blick auf die verkommene Halbstadt und die Realität der Diktatur“, wie Ilko-Sascha Kowalczuk im Nachwort zu der Neuausgabe schreibt. Das Buch ist eine Legende, und es hat eine abenteuerliche Publikationsgeschichte. Vielleicht wollen Sie darauf kurz eingehen?
LR
Ja, nicht zu sehr, weil das eine eigene Geschichte ist. Auch der Fotograf Harald Hauswald ist einer der wirklich profilierten Fotokünstler, Schwarz-Weiß-Fotografen vorwiegend, die es in der DDR in größerer Zahl gab; eigentlich Kunstfotografen, die versuchten, auch im Journalismus einen Eigensinn durchzusetzen, der sie meist nicht in die Zeitungen der DDR brachte. Das ist eine ganz eigene ästhetische Form, die sehr viele bekannte Namen hat, ich beginne jetzt mit dem Bereich gar nicht so sehr. Für mich war das Bedeutende an der gemeinsamen Entdeckung eines Münchener Verlags für ein Buch, das nicht in der DDR erscheinen würde, schon der Name „Ost-Berlin“, auf den wir bestanden, weil wir das nicht „Berlin Hauptstadt der DDR“ nennen wollten. Schon das hätte ein Erscheinen in der DDR unmöglich gemacht. Und wer heute früh bei der Rede dabei gewesen ist, da ist ja ein nettes Zitat von Kurt Hager, dem Kulturideologen, erwähnt worden. Da ging es im Wesentlichen um dieses Buch, und er hat zwei Seiten geschrieben, was man dagegen alles machen könnte. Das ist natürlich ein Ausdruck, da kann man drüber nachdenken, wie weit ein Staat gekommen ist, dass eine führende Persönlichkeit sich so von einem Buch gereizt fühlt. Das sehe ich übrigens nicht nur mehr als Ausdruck der Repression, das haben andere Leute viel profaner für viel weniger erlebt, sondern auch als Ausdruck einer gewissen Hilflosigkeit, nicht mehr offensichtlich repressiv sein zu wollen. Bei bekannten Leuten, also in Nordkorea, hätte man von so einer Wirkung geträumt. Da wäre das nicht möglich gewesen. Da hat die DDR-Zeit dann auch ein Krisenbewusstsein, und wir waren froh, solche Räume zu haben. In Bibliotheken wären wir nicht gekommen, aber in große Kirchen sind wir gekommen mit unseren Ausstellungen und Lesungen, in große private Wohnungen mit Lesungen. Es gab manchmal Schwierigkeiten, aber in der Regel war es so, dass Mitte/Ende der 80er die Schwierigkeiten eher bei direkten politischen Aktivitäten lagen, in die wir auch verwickelt waren, auch Harald Hauswald, und nicht mehr nur beim Verbreiten von Büchern.
ALS
Es gibt noch eine andere, ganz überraschende Volte in Ihrem Werk, es sind auch einige Science-Fiction-Geschichten darin enthalten. 1979, also noch vor der Veröffentlichung von „Mit dem Schlimmsten wurde schon gerechnet“ in der BRD, haben Sie mehrere SF-Geschichten im Münchener Heyne Verlag in der Buchreihe Heyne Science-fiction & Fantasy veröffentlicht. „Mich hat Stanislaw Lem erzogen“, schreiben Sie in Ihrer Erzählung „Erinnern – Sehnsucht nach Weltall“, der auch der Titel Ihrer Selberlebensbeschreibung „Trotzig lächeln und das Weltall streicheln“ entnommen ist. Angeblich hat er Ihnen sogar die Angst vor dem Zahnarzt genommen. Welche Funktion hat für Sie die „Saiäns-fiktschen“ (wie Franz Fühmann sagt), die es auch in der DDR gab? Man denke nur an die SF-Kriminalromane von Gert Prokop „Timothy Truckle ermittelt“ oder bekannte DEFA-Filme wie „Der schweigende Stern“ (1960), „Eolomea“ (1972). Was war das für Sie: Ghetto oder Gegenkultur, Medium der Systemkritik, Realitätserweiterungsliteratur?
LR
Das stammt aus einer früheren Zeit, und ich habe das eigentlich jetzt erst wiederentdeckt beim Sortieren des Buches, denn dieser Interessenstrang ist im Schreiben dann doch etwas in den Hintergrund gerückt. Als Heranwachsender, also als älteres Kind oder früher Jugendlicher, haben mich diese Geschichten, auch sowjetischer Autoren wie Arkadi und Boris Strugazki, aber auch Stanislaw Lem, der immer eine Dimension über denen war, aber auch einige amerikanische Autoren wie Ray Bradbury interessiert. „Fahrenheit 415“ ist in der DDR seltsamerweise auch erschienen, diese Jagd auf Bücher. Das waren Gesellschaftsutopien, die zum Teil damals schon Dystopien waren. Das Wort hatten wir nicht zur Verwendung und das Wort „Science-Fiction“ wurde in der DDR offiziell auch nicht gebraucht. Das wurde „utopische Literatur“ genannt. Aber die praktischen Utopien waren auch so ein bisschen Anti-Utopien. Das Weltall als Fluchtpunkt. Tauchen in die Tiefe hat mich nie gereizt, aber Weltall reizt mich irgendwie sehr. Ich finde es auch sehr tröstlich, dass das Weltall immer größer wird –die Unendlichkeit … Mit so etwas habe ich mich in der Schule, wenn ich mich gelangweilt habe, immer befasst. Was wäre jetzt, wenn ich in der nächsten Dimension wäre oder mich selbst überholen könnte. Und das drücke ich in einem Text aus, den ich jetzt vielleicht vorlesen sollte, der etwas später geschrieben ist und versucht, meinen Bewusstseinszustand gegenüber Jena zu äußern, vielleicht so mit 13, 14, 15, das ich weiß nicht, vielleicht auch mit 12 schon.
Erinnern – Sehnsucht nach Weltall
Die Geburtsstadt. Um sie herum Natur. Sie hindert die Stadt am Wachsen. Im Wald kann sich einer gut verstecken. Wenn er aber etwas entdecken und vielleicht selbst entdeckt werden will? Warum sind die Häuser im Ort nicht höher, damit einer schon beim täglichen Blick aus dem Fenster mehr sieht von der Welt. Mehr als Zäune, Gärten, Bäume, die verschnitten oder gefällt werden, wenn sie nicht genug Früchte tragen. Zu sehen sind Menschen vor kleinen Autos, die sie putzen, waschen und reparieren. Warum sind Häuser immer an einer Stelle eingewachsen und haben einen Keller? Um Kartoffeln und Kohlen zu lagern. Und im Krieg vor Bomben zu schützen. Etwas. Würden Häuser rollen können, dürfte sich die Stadt jeden Tag ändern. Und die blöde Schule hätte sich bestimmt verfahren. Wir würden sie jeden Tag neu suchen und immer erst dann finden, wenn der Unterricht zu Ende ist.
Die Stadt bewegt sich nicht, du musst dich in ihr bewegen. Die spannende weite, zumindest weitere Welt beginnt mit dem Weg aus dem Ostviertel in den Westen: die Innenstadt. Der Osten endet an der Camsdorfer Brücke, vorbei an der Inschrift einer Dichterin. Ricarda Huch, die den Brückenbauern dankte und anmerkte, fehle einmal die Brücke über den wilden Wogen, so „FASSE MUT UND SCHWIMME ODER SPRINGE“.
Bereit sein für Unerwartetes, Riskantes, um aus dem Gefängnis des Gewohnten zu entkommen. Von mir aus hätte sich damals meine Geburtsstadt in eine Rakete verfrachten und ins Universum schießen können. Trotzig lächeln und das Weltall streicheln. Eigentlich war das Lesen und später das Schreiben wie der Gang in eine Zeitmaschine. Mich hat Stanislaw Lern erzogen. Nichts ist sicher – nicht mal die Unendlichkeit. Alle Grenzen sind vor dem Aspekt ihrer Überwindung zu betrachten, die realen und die durch Verhaltensweisen aufgenötigten. Das Heranwachsen in einem anderen Staat und einem anderen Jahrhundert erzeugte die Lust nach permanenter Identitätsveränderung.
Eine Literatur, die in dem einen Deutschland „Science Fiction“, in unserem noch „utopische Literatur“ hieß. Obwohl die besseren Autoren eher Anti-Utopien entwarfen. Meine allererste gelesene Geschichte dieser Art in einem längst entsorgten Heftchen sowjetischer Autorenschaft handelte von einer Welt, in der für die Hauptfigur plötzlich alles stillsteht. Doch im Laufe der Geschichte begriff ich mit ihm: Die anderen bewegten sich auch, nur viel, viel langsamer. Alles um ihn herum erschien bloß erstarrt. Was hätte ich getan? Endlich in aller Ruhe abschreiben. Oder im Lehrerzimmer einmal nachsehen, was die in ihren Taschen und Fächern, Notizheften und Klassenbüchern so vor einem verbergen wollen. Wie schön wäre es gewesen, den Unterricht auf Knopfdruck anzuhalten. Und im Zeitraffer dann die Mathestunde vorbeiflitzen zu lassen.
Oder lieber hinweg in das Weltall schlendern, bewohnbare Planeten suchen. Um endlich nicht mehr auf die Erde angewiesen zu sein. Am besten in ein Paralleluniversum abheben und dabei einem begegnen, der allzu bekannt wirkt. Sich mürrisch mit sich selbst streiten, weil man in eine Zeitschleife geraten ist.
Die Zeit als Welle, als Delle im Raum, dehnen und sehnen sind eins. Auch wenn es verdammt merkwürdig wäre, wie in „Solaris“ verstorbenen Menschen zu begegnen oder sie durch eigene Erinnerungen erst neu entstehen zu lassen. Ist es die Intensität der Liebe, die das erst ermöglicht? Wir tragen die Welt ja im Kopf überallhin mit. Für irdische träge Schulstunden eignet sich das Grübeln über der Frage, ob wir in der Lage sind, eine intelligente Spezies als solche wahrzunehmen.
Stanislav Lem (also das Lesen seiner Bücher) hat mein Verhältnis zum Schmerz verändert. Früher rannte ich aus Angst vor dem Zahnarzt einmal schreiend aus dem Behandlungszimmer. Dank Lem entwickelte ich Neugier an der technikgestützten Beherrschung von Schmerzen. Die Plomben im Mund erinnerten an den Cyber-Zwitter aus einer seiner Geschichten. Wie viele Prothesen brauchte ein menschlicher Körper, um selbst zur Maschine zu werden?
Ja, über Einstein und die Relativitätstheorie redete der Physiklehrer einmal im Unterricht. Ich erinnere mich an seinen Satz, dass er diese Theorie auch nicht recht verstehe. Mir gefiel daran, dass sie vielleicht gar nicht begriffen werden will? Um permanent weiter über sie nachzugrübeln. Die Realität verfügte über Unschärfen und konnte durch Handeln oder Ignoranz verändert werden. Utopie als Erlösung von der Gegenwart? Meine Zuversicht schöpfte ich eher aus einer gewissen, an Stanislav Lern trainierten Katastrophensensibilität: vor allem die Neugier nicht verlieren, bei geschickter Nutzung der Raumkrümmung sich selbst überholen und mit Spott trösten. Die Zeit streicheln, damit sie noch eine Unendlichkeit durchhält und die allgemeine Reglosigkeit verhindert.
Es gibt noch zwei andere richtige Science-Fiction-Geschichten im Buch. Das hier ist eher eine Reflexion darüber. Die lesen wir jetzt aber nicht. Wie sich zwei Außerirdische nähern, die die Erde als letzte Kontaktmöglichkeit abarbeiten müssen. Und es steht schon fest, dass sie die nicht finden wollen. Der eine will sie finden – er wird die Reise nicht überleben.
ALS
Der wird liquidiert.
LR
Der andere will nur das Resultat beweisen, das seine Regierung bereits angeordnet hat. Das macht er deshalb, weil die Erde keine Chance hat zu leben. Aufgrund ihrer kriegsdurchführenden und -vorbreitenden Aktivitäten lohnt es sich nicht, mit den Menschen auf der Erde erst noch Kontakt aufzunehmen, das wäre Zeitverschwendung. Okay, das ist allerdings nicht veröffentlicht worden in der DDR. Die eine Geschichte ist, glaube ich, veröffentlicht worden, und eine ist dann in München – also das ist jetzt nicht abgesprochen, dass ich hier ständig Bayern hier irgendwie reinbringe – im Heyne Verlag erschienen, in diesen dämlich aussehenden Science-Fiction-Anthologien. Da hat der Herausgeber Wolfgang Jeschke mitunter ein ziemlich anspruchsvolles Programm zusammengestellt.
ALS
Ich könnte mir vorstellen, dass diese Lust nach permanenter Grenz- und Identitätserweiterung in gewisser Wiese auch Ihren Blick auf die deutsch-deutsche Geschichte prägt. Wenn man seine Geburtsstadt in ein Raumschiff verfrachtet und vom Weltall aus betrachtet, dann relativieren sich vielleicht auch manche Zumutungen auf der Erde.
Wir sind noch bei den literarischen Textsorten, und ich wollte in diesem Zusammenhang eine vielleicht etwas überraschende Frage stellen, weil man diese Textsorte gar nicht unbedingt als Literatur wahrnehmen würde, aber inwiefern kann man vielleicht auch die Akten der Staatssicherheit als Literatur betrachten? Sie nennen die Literatur der Staatssicherheit „eine Poesie der Macht für dreihunderttausend Stimmen, einmal sehr knapp gerechnet. Ein Gesamtkunstwerk auf Millionen Seiten. Kurzgeschichten sind darunter, sperrig erzählt, spröde, aber verdichtet: …“
LR
Ja, man kann sie aus hinreichender Entfernung mit dem Willen zu Betrachtungsgenauigkeit natürlich insgesamt als ein Werk, ein schriftliches Werk, auch ein literarisches Werk sehen. Man kann das den Menschen zumuten; bei denjenigen, die durch Aktivitäten, die in den Akten verzeichnet sind, Leid erlitten haben, ist diese Perspektive etwas schwierig. Andererseits setzt sie fort, was ich in diesen subkulturellen Szenen, nicht nur am Prenzlauer Berg, auch in Dresden, Leipzig, Jena oder anderswo ständig gemacht habe. Ich habe Satiren über die Staatssicherheit verlesen. Wir haben uns über ihre Denkhaltung auch zu DDR-Zeiten lustig gemacht. Einer der erfolgreichsten Texte von mir, der auch hier drin ist, war der über einen Spitzel, der vergisst, sich wieder zu bewegen, weil er so gut arbeitet – als Stuhl im Zimmer getarnt – und Bericht erstattet, während er über die mangelnde konspirative Sensibilität seiner Auftraggeber nachdenkt und an der Gedankenübertragung arbeitet. Das gab schallendes Gelächter, gerade bei jungen Zuhörern. Insofern ist diese Sprache schon interessant, aber wenn man die Realität der Akten liest, ist es ein sehr opulentes Werk, was auch sehr langweilig sein kann. Also, es bedarf eines ordnenden Zugriffs, und da es kein Register gibt und auch keines geben wird, aus Datenschutz- und anderen Gründen, wird es sehr schwer sein, dieses Werk als soziale Quelle zu nutzen. Das ist jetzt ein extra Thema, aber es schadet nicht, die Dinge auch mal anders zu betrachten. Man kann die Akten als Werk betrachten, aber die Menschen, die das geschrieben haben, haben im Staatsdienst gearbeitet, also Urheberrechte oder Nutzungsrechte für die Veröffentlichung von Stasi-Akten bekommen sie heute natürlich nicht mehr.
ALS
Und es ist natürlich auch eine ganz unmenschliche Sprache. Ich bin selbst auch einmal in den Genuss gekommen, Stasi-Akten meiner beiden Eltern, in denen ich erwähnt werde, ich wurde nicht selbst observiert, lesen zu dürfen. Das war eine sehr verstörende, aber gleichzeitig auch faszinierende Lektüreerfahrung.
LR
Dieser Ekelfaktor der Akten bei der Erstbegegnung ist einfach unvermeidbar und auch sehr menschlich. Es spricht auch für eine wache Sensibilität, dass man den wahrnimmt. Man kann so etwas nicht schreiben, ohne abzustumpfen. Nun hat jede bürokratische Sprache ihre Abstraktion, die einen in den Zustand einer gewissen Empathielosigkeit, um neutral zu sein, versetzt. Aber diese Sprache geht natürlich weit darüber hinaus, weil sie dann wiederum eine Anti-Empathie entwickeln soll, bis hin zur Vernichtungssehnsucht, die sich jetzt in den DDR-Akten, die ich bisher gelesen habe, nicht in der Planung von Gewaltorgien äußert, aber dann in Sätzen wie dem, sinngemäß zitiert: „Bei Person X kann auf weitere Zersetzungsmaßnahmen verzichtet werden. Bei ihm sind suizidale Neigungen zu beobachten.“ Also der Zustand der politischen Aktivität wird nicht mehr auftauchen, und was daraus jetzt wird, ist uns egal. Also es ist eher die organisierte Empathielosigkeit, die sich in dem Wort „Zersetzungsmaßnahme“ spiegelt.
ALS
Wie stehen Sie heute zu Ihrem Vorschlag, die Stasi-Akten in das Unesco-Weltdokumentenerbe aufzunehmen, wie zum Beispiel die frühen Schriften der Reformationsbewegung, „Das Manifest der Kommunistischen Partei“ oder „Das Kapital“?
LR
Er ist nicht realistisch und war damals auch ein ideell interessanter Vorschlag. Ich habe viele gute Ideenvorschläge gemacht, die zum Nachdenken anregen. Dazu ist das zu ungeordnet, nein, das hätte jetzt heute keinen Sinn mehr. Man könnte überlegen, ob einige Dinge herausgenommen werden könnten, einzelne Aktenteile. Aber dazu ist der Erhalt und die Ordnung der Staatssicherheitsakten nicht gut genug, und es gibt andere, wichtige Dokumente, es ist nicht die einzige interessante Hinterlassenschaft der DDR. In der Literatur und anderem, das ich sowieso im Grunde noch spannender finde, gibt es auch unentdeckte, halb-entdeckte Autoren, auch das, was in Kirchen erschienen ist. Zum Teil sind auch andere Dokumentationslinien sehr interessant, wie zum Beispiel auch dieses Archiv der Poetenbewegung, über das wir eingangs sprachen.
33 Jahre deutsche Einheit – eine Zwischenbilanz
ALS
Wir kommen nicht umhin, zum Tag der Deutschen Einheit 2023 auch über den aktuellen Stand der Wiedervereinigung zu sprechen.
In den zweiten Teil des Gesprächs wollen wir mit einem kurzen Text aus dem Jahr 1997 überleiten: „Die Macht der Worte“.
LR
Dieses Buch besteht aus fünf Kapiteln. Zwei reichen bis 1989, eins ist die Zeit Ende 1989 bis 1992, und das letzte sind Gegenwartsgeschichten.
Der Moment, in dem plötzlich etwas passiert ist, was vorher nicht möglich schien, eine Maueröffnung, wird mit folgendem Text reflektiert:
Die Macht der Worte
Es war einmal einer, der dachte nur noch schlecht über seinen Staat. Allein der Name, drei Buchstaben, ein Insektenvernichtungsmittel, DDT, klang ähnlich. Das Wort Tod fügte sich aus drei Buchstaben zusammen. Alle seine Freunde stellten Auswanderungsanträge. Sie nannten es damals anders, aber das Wort Reise für diese Art des Wegsiedelns zu benutzen, weigerte er sich. Er mochte gar nicht mehr über diesen Staat nachdenken. Er wollte auch nicht westwärts ziehen. Einem Einfall nachgebend, beantragte er die Öffnung der Landesgrenzen. Schriftlich. Kurz darauf geschah das. Hoffnungsvoll und hoffnungstoll beantragte er am Tag danach die Beseitigung des Staates, in dem er lebte, innerhalb eines Jahres. Dieser Auflösungsantrag wurde in der gewünschten Frist erfüllt. Der Staat verschwand in seinem Nachbarn. Da erschrak der Antragsteller vor der Kraft seiner Worte und mühte sich inständig, ja keinen Wunsch mehr zu haben und ihn schon gar nicht aufzuschreiben. Mein Gott, dachte er, aber jeder weitere Gedanke hätte für Gott gefährlich werden können. So wanderte er aus in eine Gegend der Welt, in der seine Worte keine Allmacht besaßen.
ALS
Wäre es nicht phantastisch, wenn alle Wünsche so einfach in Erfüllung gingen?
LR
Vorsicht, Vorsicht, alle Wünsche aller wäre nicht mehr phantastisch.
ALS
Ja, es ist eine sehr ambivalente Geschichte. Das Wort hatte in der DDR eine große, vielleicht auch überschätzte Macht, und das Gesagte, Geschriebene und Gedachte wirkt bis heute nach, weit über das Ende der DDR hinaus. Deshalb wollen wir uns nun der Frage zuwenden, wo wir heute im Prozess der Wiedervereinigung stehen.
Ich würde dabei gerne unterscheiden zwischen dem faktischen Prozess und dem diskursiven Prozess.
Also, was haben wir faktisch erreicht? Das ist alles sehr schön nachzulesen im Bericht der Bundesregierung 2023 „Zum Stand der deutschen Einheit“, der vor wenigen Tagen erschienen ist, der vor allem die Angleichung der Lebensverhältnisse betont, Stichwort Rentenangleichung, Bürgergeld, Mindestlohn und so weiter.
Und wie wird darüber gesprochen? Da glaube ich, dass auf der diskursiven Ebene aktuell die Schere immer weiter auseinanderklafft. Ich fürchte, dass sich gegenwärtig der Osten – oder Teile des Ostens, Sie entschuldigen, wenn ich das so verallgemeinernd formuliere – diskursiv immer schärfer gegen den Westen abgrenzt.
In Ihrer Festrede zum Tag der Deutschen Einheit sprachen Sie von einer „Demokratieverachtungsgefährdung“. Eine aktuelle Studie der Universität Leipzig beobachtet in den neuen Bundesländern einen weit verbreiteten Ethnozentrismus, verbunden mit einem ausgeprägten „Fremdeln mit der Demokratie“, die von Vielen nicht als etwas Eigenes verstanden wird. Ich zitiere Petra Köpping: „Zwanghaft wird jetzt im Osten eine kulturelle Identität gesucht, die man selbst mit abgeschafft hat.“
Woher kommt die Suche nach einem neuen „Ostbewusstsein“?
LR
Ja, ich versuche das pointiert und natürlich nicht ganz richtig als Ausdruck einer verwirklichten Westwirklichkeit, einer mit speziellen Osthintergründen, die sehr verschieden sind, zu realisieren. Dieses Selbstbewusstsein, was legitim ist, sowieso, hat verschiedene Intensitätsstufen. Das hat richtige Anmerkungen und es hat völlig herbeiinszenierte Anmerkungen, die anders sind, wo sich dann rechte Demokratieverächter andocken können und die Losung „vollende die Wende“ daraus machen. In Dresden habe ich das im Landtag mal in einer Rede ad absurdum geführt, wenn man die Wende vollendet, ist man da, wo man gestanden hat. Ich glaube, es so ad absurdum geführt zu haben, dass zumindest die AfD es in Sachsen nicht mehr gebraucht hat. Und vielleicht ist dieser nie eingestandene Erfolg von mir dann sozusagen der wirksamste in dieser Zeit.
Andererseits ist es auch so, dass ich die Widersprüchlichkeiten sehe, dass die Erwartungen einfach irre verschieden waren. Die sind mir im Jahr 1990 mit einer Kontrastintensität begegnet, die ich in einem Nachtragtext zu dem Ostberlin-Buch, der hier in diesem Buch ist, beschrieben habe. Im Juni/Juli, der Zeit der Währungsunion, waren die Dinge, die ich erlebt habe, so merkwürdig verrückt und in sich widersprüchlich, man spürte auch etwas von dieser Gleichzeitigkeit, von Hoffnung und Aggressivität. Und während ich dann in Dresden als Landesbeauftragter begann, ist der Spannungsbogen noch größer geworden. Mir ist klar geworden, wie man dort im Dezember 1989 der deutschen Einheit und den Erwartungen begegnet ist und „Helmut rette uns!“ gerufen hat. Man war froh, wie die Menschen das arrangiert haben, damit beim Singen der Nationalhymne ja nicht die erste Strophe gesungen wird, das ist geglückt, das hat ja alles ganz konkreter Vorbereitung bedurft. Und diese Stimmung wurde in Berlin in den Kreisen, in den ich zu tun habe, fast mit Verachtung betrachtet. Aus berechtigten Gründen und aus völlig arroganten Gründen gleichzeitig. Die Leute dort haben noch Dinge erwartet, und für die Berliner war klar, die sollen jetzt hier von Bonn aus kommen und mal die Kohle rüber rücken, damit wir unsere Kulturarbeit alternativ weiterführen können. Die Ost-Ost-Spannung habe ich die ganze Zeit als viel größer gesehen als die Ost-West-Spannung in den verschiedenen Facetten. Insofern ist das heute für mich spannend, das ist richtig, und man muss sich auch nicht nur sofort in die polemische Verteidigungsgegenposition begeben, sondern ich versuche, das Interessante herauszupicken.
Ich will nur eins sagen, Dirk Oschmann habe ich ja heute schon mal zitiert und ich habe ihn in Jena gehört und den pointierten Satz, dass ein Ostdeutscher bayerischer Ministerpräsident werden muss. Da begreifen die Ostdeutschen manchmal gar nicht, dass man darüber hier wirklich lachen kann, also Westbeschimpfung hat mir im Westen noch nie geschadet, um das mal ganz klar zu sagen. Das Beleidigtsein ist da viel geringer, gerade wenn es sich im literarischen Bereich vollzieht. Es kam auch der Satz, naja, dass Ostdeutschland sowieso keine Chance hat, weil die Großstädte fehlen, die Bevölkerung wird überall schrumpfen und in Dresden, Leipzig und Ostberlin wird sie zunehmen, und die anderen Städte haben alle keine Chance. Das hat er in Jena erzählt und da dachte ich mir, merkt ihr überhaupt, was er hier redet? Ist das nicht auch Quatsch gegenüber Göttingen, Tübingen, Freiburg oder Jena, Erlangen und anderen Städten? Was sind das hier für Klischees, die geschäumt werden. Das hat eigentlich gar nicht so sehr was mit deutscher Einheit zu tun, sondern hier hat auch jemand eine Angst, dass der Osten … Wir sind ja nicht mehr der Osten, der Osten ist weiter im Osten, und jetzt sind wir normalisiert und es gibt auch den Bedeutungsmehrwert der ehemaligen DDR-Literatur, der ist in einer historischen Schiene da, aber der ist nicht aktuell da. Es gibt heute kurdische Autoren mit Prägung von dort, die in Deutschland aufwachsen, es gibt die der verschiedenen Sowjetunion-Hinterlassenschaften, die eine immer stärkere Rolle spielen werden in der deutschen Literatur, es gibt die verschiedensten Dinge. Insofern ist der deutsch-deutsche Diskurs nützlich und andererseits auch ein bisschen autistisch.
ALS
Man könnte auch in Bezug auf den aktuellen Stand der Wiedervereinigung von einem „Integrationsparadox“ sprechen. Aladin El-Mafaalani erläutert in seinem gleichnamigen Buch (2020), warum gelungene Integration nicht zu weniger, sondern zu mehr Konflikten führt. Das würde auch erklären, warum der Diskurs immer radikaler wird, je weiter er sich von der Lebensrealität entfernt. Er scheint mir auch sehr generationsspezifisch zu sein. Wäre es denn nicht viel wichtiger, sich aus einer gesamtdeutschen Perspektive mit den Repräsentationslücken einer postmigrantischen Gesellschaft zu beschäftigen?
LR lacht (an das Publikum gerichtet)
Aber wir sind natürlich zwei, die einen ostdeutschen Lebens- und Erfahrungshintergrund haben, und wir wollen Sie natürlich sensibilisieren für die vorhandenen Probleme – diesen Identitätsmix. Deswegen komme ich ja nicht zu einem langen Text, sondern zu einem Wettbewerb der Identitäten durch die verschiedenen Texte, die verschiedenen DDRs oder Nicht-DDRs, die da drinstecken, in den deutschsprachigen Provinzen. Insofern kann die Diskussion geführt werden, man kann sie auch hier führen, auch mit allen, man soll da niemanden ausschließen. In Sachsen habe ich noch ein paar spezifisch sächsische Komponenten festgestellt, ein sehr starkes föderalistisches Bewusstsein, was sehr mit diesem Freistaat zu tun hat, sagen wir mal minus Leipzig, und was so in dieser Art, in dieser Stärke, in Thüringen nicht vorhanden ist, dazu ist das zu verzettelt. Das ist eine weitere DDR-Komponente, die in Sachsen-Anhalt oder in Mecklenburg überhaupt nicht verstanden wird.
ALS
Ich denke, dass auch Oschmann letztlich einen ganz normalen Prozess beschreibt, der im englischsprachen Raum als Othering (zu Deutsch etwa: Veranderung) beschrieben wird. Das heißt, dass die Konstitution der eigenen kulturellen Identität immer in Abgrenzung gegen etwas anderes geschieht. Ich spalte von mir ein Nicht-Ich ab und sage: Das bin ich nicht. Dadurch definiere ich meine eigene Identität. Das war im Westen so, das war im Osten nicht anders. Die klassische Antwort, die man im Westen immer zu hören bekam, war: „Wenn es Dir hier nicht passt, dann geh doch rüber.“ Das ist genau das Prinzip des Othering. Die bundesrepublikanische Lebenswirklichkeit war die Nicht-DDR. Umgekehrt hat sich natürlich auch der Osten immer gegen den Westen abgegrenzt. Im Systemkonflikt haben beide Seiten versucht, sich als das bessere, moralisch überlegene Deutschland zu inszenieren. Das wirkt bis heute nach.
LR
Ja und Nein. Wenn jemand nach Jena kam und zu sehr die DDR als Modell lobte, grenzte ich mich auch davon ab, in dem ich darauf bestand, das schlechtere Deutschland zu sein. Rationale Argumente und Trotz vermischen sich. Die Strahlkraft des anderen auf sein Gegenüber ist unterschiedlich. Der Westen schien in seiner ökonomischen Dominanz wichtiger zu sein. Im Grunde ist die heutige Ostidentitätslust auch eine Art Westdeutschsein.
ALS
Ich möchte noch einmal auf die diskursive Abgrenzung zu sprechen kommen, die man mit Petra Köpping als eine Art „Wagenburgmentalität“ beschreiben könnte. Die meisten Ostdeutschen, die ich kenne, schimpfen über die DDR. Wenn aber jemand von außen, der nicht im System aufgewachsen ist, die DDR kritisiert, wird sofort eine Abwehrhaltung eingenommen. Genau darum geht es, glaube ich, auch in der aktuellen Debatte über Charlotte Gneus‘ Debütroman „Gittersee“, nämlich um die Frage der Deutungshoheit und die Frage: Wer darf über die DDR reden oder schreiben?
LR
Natürlich darf sie, und ich darf auch über Erlangen schreiben, wenn mir dazu etwas einfällt. Jeder Autor sollte über seinen Tellerrand hinausschauen dürfen, ohne den Inhalt des Tellers, aus dem er kommt, zu ignorieren.
ALS
Sie haben früh ein „gesamtdeutsches Bewusstsein im Zölibat einer DDR-Existenz“ gepflegt. Ein Aspekt scheint mir dabei besonders wichtig zu sein, der sich wie ein roter Faden durch Ihr Schaffen zieht, nämlich das Bewusstsein der Grenze und der Grenzüberschreitung, für die symbolisch die Berliner Mauer steht. 1986 haben Sie im „Wiener“ eine geradezu prophetische Kolumne veröffentlicht:
„Die beiden deutschen Staaten stehen sich wie zwei Brüder gegenüber, die einander fest umklammern. Der Beobachter weiß nie so recht, ob sie sich gerade innig umarmen oder verbissen miteinander ringen. Ja, sie sind einander ähnlicher, als sie es wahrhaben wollen.“
Wie haben Sie – als DDR-Grenzsoldat und Bürgerrechtler – Präsenz und Fall der Berliner Mauer erlebt?
LR
Soll ich die beiden ausgesuchten Zitate vorlesen? Die sind aus diesem Buch von Ihnen herausgepickt, sehr klug gewählt aus einem längeren, eher atypischen Text über Architektur in Stadtgestaltung in Ostberlin. Da spielt dann auch die Mauer eine große Rolle. Es setzt im Grunde auch das Ostberlin-Buch fort. Ich versuchte damals, die Mauer interessant zu finden.
Die Mauer als Motor, der permanent Spannung erzeugt. Ein geheimnisvoller Magnetismus geht von ihr aus, unabhängig von politischer oder moralischer Deutung. Dieses Messer der Geschichte, rabiat einen Ort entzweischneidend, der sich zu mehr aufwuchs als bloß zwei Hälften. Im Moment der Trennung waren beide Teile am Auseinanderdriften, sodass die Mauer sie zusammenfügte. Ein Reißverschluss. Der Kitt von Ost-Berlin. Die Mauer als Metapher für etwas, das eine spröde Hoffnung enthält. Abgrenzung wird nur für nötig erachtet, wo sich Dinge zu vermengen drohen. Eine Herausforderung – nicht nur für die Architektur.
Und ein paar Seiten weiter:
Die Grenze existierte auch da, wo sie nicht zu sehen war. Ein stets vorhandener Partner in allen Dialogen. Nur. Die Mauer für den, der aus dem Land ging, war eine andere als für jenen, der blieb. Wieder anders bot sie sich dem dar, der durchgehen konnte in beide Richtungen. Für den gänzlich fremden Beobachter geriet sie zum bestaunten Exotikum. Ein Thema, das mich nicht mehr loslässt: Die Mauer als Fernrohr mit verzerrender Optik. Ein Prisma, das Probleme in ihre Teile zerlegt. Die Ostler im Westen, der Westen im Osten. Das verriegelte Tor zur Welt blieb ein Tor. Ein Ort für Widersprüche.
ALS
Das Tor zur Welt hat sich geöffnet. Die Widersprüche sind geblieben. Das Zeitalter der Globalisierung, das eine grenzenlose Welt versprach, hat jedoch im Gegenteil zu einem Wiedererstarken territorialer Grenzen im 21. Jahrhundert geführt. „Sortiermaschinen“ (Steffen Mau) haben Hochkonjunktur.
Bekenntnis zur Biographie
ALS
Lassen Sie mich abschließend noch einige biographische Fragen stellen.
Zu den eindrücklichsten Texten Ihres Buches gehören die noch unveröffentlichten Gefängnistagebücher aus dem Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen.
Stimmt es, dass Sie die Tagebücher Jürgen Fuchs zur Aufbewahrung nach West-Berlin schickten, aus Angst vor Hausdurchsuchungen?
LR
Alle 14 Tage ca. über in Ostberlin arbeitende West-Korrespondenten, zum Beispiel Helmut Lölhöffel von der „Süddeutschen Zeitung“. Er ließ die dann in einem Tresor wegschließen, damit niemand im Auftrag eines Geheimdienstes sie dort stehlen konnte. Das sind keine klassischen Tagebücher, ein Konvolut an Notizen, Briefen und andere Dokumenten. Das verrückte ist, ich habe bis heute kaum etwas davon gelesen. Diese Haftnotizen waren ein extra abgelegter Text, außerhalb der handschriftlichen Tagebücher.
ALS
Warum haben Sie so lange gezögert, die Texte zu veröffentlichen?
LR
Ja, hier ist ein längerer, unmittelbar nach der Haft entstanden, die nur 10 Tage dauerte, auch wenn sie ein paar Jahre dauern sollte. Aufgrund der vielen Westmeldungen habe ich sofort danach in zwei Tagen hintereinander weg einen Text geschrieben, den ich jetzt erst wiederentdeckt und einen längeren Auszug gewählt habe. Aus diesem Hafttagebuch lese ich einen Auszug:
Laufe ich lange genug in der Zelle hin und her, her und hin, schaffe ich es nach ein paar Monaten, Jahren, einmal um den Äquator. Bis zum Mond wird ein Leben wohl nicht reichen. Das verhindert auch die Schwerkraft der Erde. Diese hat aber ihr Gutes – Luft ist immer vorhanden. Manchmal ist diese, wie hier, deutlich zu warm. Die Fenster sind nicht zu öffnen. Glasbausteine. Der blickdichte Fensterersatz. Bei eintretender Müdigkeit – sonst tritt selten jemand hier ein, kann ich mich auf einen Hocker ohne Lehne setzen. Immerhin: aufstehen, setzen. Und umgekehrt. Und ich habe einen Kamm aus sehr weicher Plaste. Ich darf die Haare kämmen so oft es mir beliebt. Das soll gesund sein und gut gegen Haarausfall. Zwei Zinken sind dem Kamm schon abgebrochen. Die Plaste ist eben sehr weich. Aus einem Kamm darf keine Stichwaffe werden. Mit den beiden Zinken spiele ich Verstecken. Ihnen gelingt es leichter zu verschwinden als mir. Meine Haftanstalt lieh mir, spendierte, eine Trainingsjacke. Diese überließ mir einen zirka achtzehn Zentimeter langen Faden. Er ist geschmeidig und fällt oft aus meiner Hand auf die Tischplatte aus Sprelacart. Lasse ich ihn so entgleiten entstehen die kosmischen Zeichen die nicht erst Paul Klee entdeckte. Jeder Fall eine andere Figur, eine neue Gestalt. Wie viele verschiedenartige Zeichen ein Faden wohl bereithält, wie viele Tage, Monate, Jahre werde ich zum Ausprobieren haben? Es klopft hinter einer Wand. A hieß ein Mal klopfen, Z sechsundzwanzig Mal. Ich verstehe nicht, was der neben mir klopft. Ich versuche meinen Namen zu klopfen aber er scheint damit nicht klar zu kommen und ich sicher auch nicht, wahrscheinlich habe ich mich verzählt. Wir klopfen uns Mut zu und es ist gut jemanden zu hören der eine Zelle weiter sitzt. Was er mir mitteilen will ist egal. Eigentlich das Beste nach drei Tagen hier. Manchmal höre ich Sätze halblaut gesprochen deren Sinn sich nicht erhält. Anfragen an das Wachpersonal. Ab dem dritten oder vierten Tag vernehme ich einen alten Mann jeden Abend ganz erbärmlich husten. Ich höre wie sich einmal der Posten bei ihm erkundigt ob er etwas für ihn tun könne. Die Stimme des patrouillierenden Mannes ist ein wenig erschrocken, nicht frei von Anteilnahme. Die Dreijährigen, Unteroffiziere, das Küchenpersonal verhalten sich rudimentär persönlich. Es gibt Unterschiede. Der eine will einem ins Gesicht sehen, wenn man spricht, der andere vermeidet es konsequent einen anzublicken. Der eine entschuldigt sich fast, wenn er mitteilt, dass die Tageszeitung nicht herausgeben darf, der andere brummt mürrisch er könne die Bücher nicht noch lesen, wenn er zum ersten Mal Bände in die Zelle reicht. Er nimmt die ersten drei von der obersten Reihe des Bücherkarrens. Buch ist Buch. Und ich sitze hier auch wegen einem. Wie würde ich reagieren, wenn plötzlich mein Westbuch in die Zelle gereicht würde? Wäre das eine Provokation und ein Delikt mehr?
Die Stille einer Vernehmung genießen, die abgebrochen wird, weil ich jede Aussage verweigere, der Vernehmer blättert in einem der beschlagnahmten verboten Bücher und wechselt demonstrativ kein Wort mit mir. Er wartet auf den Posten der den nicht-aussagebereiten abholt oder hat demonstrativ die Zeit des Schweigens ausgedehnt. Ich genieße den Ausblick, den Flug der Vögel, deren Figur nur das Gitter zu stören scheint. Ich sage mir, dass das für Wochen der letzte Blick in eine Ferne von fünfzig oder hundert Meter sein kann. Ich erlebe einen Moment des Glücks, wäre es dem Vernehmer nicht zu warm gewesen, hätte der das Fenster nicht geöffnet, und das Schweigen im Raum wäre ein anderes oder lässt sich die Heizung nicht nach unten regulieren.
Und noch ein Abschlusszitat über den Vernehmer:
Der Vernehmer gebraucht lateinische Zitate, scheint Pink Floyd und anspruchsvolle Musik zu lieben. Trägt gepflegte Kleidung, stämmig, Ansatz von Haarausfall, sagt ich soll ihm ein literarisches Denkmal setzen. Er liest gern Romane – nur anspruchsvolle. Zum Beispiel Günter de Bruyn. Ein toller Autor. Liest zwei kurze Prosatexte vor und will testen ob ich die Autoren kenne. Mit Elke Erb liege ich richtig. Er bekomme von solchen Miniaturen Kopfschmerzen, sagte er. Er liebt Lederbände, gut ausgestattete kostbare Bücher und meint, dass Paperbacks ein Verfall der Druckkunst sind. Ein Freund bibliophiler Gestaltungskunst, gar ein Sammler. Er stellt sich die Gesellschaft als Gärtner vor der wild wachsende Triebe wie mich beschneiden muss damit alles im Staate besser blühen kann.
Die Selbstmordmöglichkeiten: der an die Kacheln eingelassene Spiegel, nein. Das Plastemesser? Grotesker Versuch. Sich das Genick brechen beim Sprung vom Bett? Der Rasierapparat wäre eine Möglichkeit aber es haben schon welche einen 220 Volt-Schlag überstanden. Pinkeln in die Steckdose?
ALS
Ein Text in Ihrem Buch aus dem Jahr 1991 ist der „Prenzlauer-Berg-Connection“ (Adolf Endler) gewidmet, die sich ab 1978 in der Wohnung von Ekkehard Maaß in der Schönfließer Straße 21 in Berlin-Prenzlauer Berg traf und schon nach kurzer Zeit ins Visier der Stasi geriet.
Ich zitiere aus einem Bericht des MfS, „Schriftstellerlesung bei Ekkehard Maaß“, Info Nr. 507/81:
Dem MfS vorliegenden internen Hinweisen zufolge fand am 20. September 1981, von 20.00 bis ca. 23.00 Uhr, in der Wohnung des Maaß, Ekkehard (30), […], ohne festes Arbeitsverhältnis, eine Zusammenkunft – an der etwa 40 Personen teilnahmen – statt, während der sogenannte Nachwuchsliteraten aus ihren „Arbeiten“ lasen.
Den Anfang machte der Liedermacher Hans-Eckardt Wenzel.
Am Anschluss daran trugen insgesamt 17 Personen größtenteils selbstgefertigte Texte vor, die zum überwiegenden Teil sozialismusfremde, den politischen und weltanschaulichen Positionen der DDR widersprechende sowie pazifistische Aussagen oder Andeutungen enthielten. Ein wesentlicher Teil der Texte ist nach intern vorliegenden Hinweisen literarisch minderwertig bzw. als vulgär zu bezeichnen.
Unter den Autoren befanden sich Bert Papenfuß, Uwe Kolbe, Peter Brasch, Rainer Kirsch, Jan Faktor, Lutz Rathenow und andere.
1984 gaben Sie im Oberbaum-Verlag die erste im Westen gedruckte Anthologie aus dem Prenzlauer Berg heraus: „einst war ich fänger im schnee. Neue Texte und Bilder aus der DDR.“ Nach der Enttarnung Sascha Andersons reduzierte Wolf Biermann den Prenzlauer Berg auf einen „Schrebergarten der Stasi“.
Wie haben Sie die Literaturszene am Prenzlauer Berg wahrgenommen?
LR
Ich fand diese Szene sehr anregend, ich fand es sehr spannend, mich zwischen politischen Szenen, die auch literarische Interessen hatten, wo es auch Lesungen gab, kirchlichen Szenen, die in die politischen eingearbeitet waren – zum Teil evangelische Akademie, zumindest die in Sachsen-Anhalt, offene Jugendarbeit wieder anders gefärbt –, mich zwischen diesen Szenen hin und her zu bewegen und die Westbücher dort vorzustellen, zum Teil auch zu verkaufen. Ich habe mir mein Honorar in eigenen Büchern, die dann in die DDR geschmuggelt wurden, auszahlen lassen, in Taschenbuchausgaben, und habe dafür dann Steuern gezahlt an die DDR mit fiktiven Rechnungen, damit ich nicht der Steuerhinterziehung bezichtigt werden kann.
Der Prenzlauer Berg, der war schon sehr spannend, der war auch mit Stasi unterwandert, dennoch würde ich aus heutiger konkreter analytischer Sicht schon klar sagen, dass es nicht reicht, alle literarische Betätigung deswegen als uninteressant zu bezeichnen, nur weil da zwei Leute versuchten, sie mit zu steuern – zum Teil ist das ja auch gelungen. Autoren wie Jan Faktor und ein anderer, Peter Wawerzinek, die auch heute interessant sind, Bert Papenfuß, der nun diesen Sonnabend beerdigt wird – da werde ich auch hingehen, obwohl wir jahrelang eher andere Konzeptionen vertraten –, haben schon sehr anregende Impulse geliefert.
ALS
Elke Erb nicht zu vergessen.
LR
Hier ist ein eher polemischer Text in dem Buch drin, da lese ich jetzt mal nichts draus vor, den können Sie aber lesen, meine Analyse des Prenzlauer Berges in einer kritischen Variante. Ich nehme das wieder auf, und ich finde, das war ein eigenes Gewächs innerhalb des deutschen Literaturbetriebs.
ALS
Eine letzte Frage noch in diesem Zusammenhang, bevor Sie uns ein Kapitel aus einem aktuellen „work in progress“ vorlesen: Was sind „Instruktiv-methodische Hinweise für die Schaffung, Aufklärung, Dokumentation und Planung zeitweiliger Isolierungsstützunkte für politisch unsichere Elemente“?
LR
Das ist der Versuch von Internierungslagern, würde ich sagen. Es gibt drei Realitätsebenen in der DDR. Die sich vollziehende, also die Realität, die Menschen erlebten, die sehr unterschiedlich sein konnte. Und dann gibt es die Möglichkeits-DDR in zwei Richtungen: die Versuche, sie zu verbessen, auch innerhalb von Institutionen; auch in Verlagen haben bis zum Schluss immer wieder Leute versucht, sich einzusetzen, manchmal sogar mit Erfolg. Und es gibt eine düstere Möglichkeits-DDR, die hier ihre Krönung findet, in der man Pläne aufgestellt hat – die sind nicht überall erhalten –, wer im Krisenfall interniert werden muss. Die meisten dieser Leute, wenn ich das richtig in Erinnerung habe, pro Kopf der Bevölkerung, waren in Jena. So viele wie in ganz Mecklenburg. Es waren mehrere hundert bis tausende, es waren sehr viele, aber das ist jetzt so eine Sache. Es ist ein Plan, das ist fragil, und es gab auch für den Einmarsch in Westberlin die Pläne des Kultursenators von Kreuzberg, das hieß dann nicht mehr Senator, da standen Adressen, das ist nun auch ausgestellt worden, das ist alles da. Nur stellt die Frage sich, wie ernst das zu nehmen ist, und da muss man natürlich immer in die Resonanzräume gehen, wie ernst war es zu welchen Tagen, wie ernst wäre es 1988, 1989 wirklich noch gewesen, und so weiter.
Zumindest haben Sie da eine der hässlichsten, düstersten Wortkombinationen gefunden, wo man sich selbst auch Macht zuschreibt, wenn man beim Formulieren möglichst lang wird. Ich erlebe das bei mir auch, wenn die Analysen ein bisschen zu versagen drohen, neigt man zu längeren Konstruktionen und lädt das Wort auf mit Bedeutung. Das funktioniert dann manchmal auch im Vortrag; und der andere, wenn er es nicht versteht, kann sich zumindest erhaben ernst genommen fühlen, da er nicht unterfordert wird.
ALS
Nun sind wir gespannt auf Ihr aktuelles „work in progress“ „Die Rätsel in Dresden“.
LR
Also ich lese jetzt diesen Text, der mir schon wichtig ist, der gegen Ende meiner Dienstzeit begonnen wird und danach beendet ist und der im Grunde fortgesetzt werden wird. Ich werde ihn kürzen, sonst wird das wirklich zu lang. Sie sind hier ein sehr geduldiges Publikum und ich werde das jetzt nicht zu sehr überreizen.
„Die Rätsel in Dresden, ein Verzettelungsroman“. Ich versuche etwas von der Spezifik dieser Stadt zu vermitteln, die sich für mich als sehr spannende Stadt offenbart hat. Wenn man in Dresden lebt, sind die Züge von und nach Dresden meist die tschechische oder ungarische Bahn. Das ist wieder eine völlig eigene Wirklichkeit, die tschechische Bahn, es fahren Leute nur nach Dresden, nur mit dem Zug, also von Hamburg in diesem Zug, um im Speisewagen zu sitzen, und da gibt es spezifische Gespräche. Gut, aber ich lese Ihnen jetzt einfach etwas vor:
Diese Stadt. Überdurchschnittlich viele Menschen deuteten ihre Unbeholfenheit in eine höhere Aura exklusiven Handelns um. Blicke lesen, das lernte er in Dresden, etwas länger hinschauen und genauer, gerade in Gesprächen. Findet er im Blick etwas anderes als in den Worten? Diese Frage stellte er sich schon vor der Zeit der Maskierung, die ja auch einen winzigen Fitnessaspekt hatte. Gerade für Menschen, die den alten Verhöhnungsspruch aus der Schule »Sport ist Mord« zum Lebensmotto machten, war jede Bewegung wichtig. Nicht Auto fahren lernen, um sich zum Gehen zu zwingen. Möglichst großformatige Tageszeitungen kaufen, um beim Entblättern wenigstens die Armmuskulatur zu kräftigen. Und die Maske in schneller Folge auf- und absetzen. Der neue Trendsport.
„Ich will mein Gesicht zeigen“, nölte ihn vor ein paar Tagen einer an und Bertram nickte vorsichtig. Er wollte, dass der andere sich gut fühlte, ernst genommen, so nickte er halt öfter, ohne sich mit den Wünschen seines Gegenübers erst wirklich zu befassen. Was wollte er denn selbst? Begann das Verbergen eines Gesichtes nicht mit dem Bart? Und alles was ihn an Haut umschloss, war das nicht eine einzige Verhüllung der Muskeln, des Skelettes und all der inneren Organe, von denen er schon bei ärztlichen Untersuchungen viel zu viel sah auf den Bildschirmen der glücklicherweise engagierten Ärzte. Die ihn teilhaben lassen wollten, an dem was sie sahen. Das Leben maskierte immer das, was Leben erst ermöglichte.
Schnitt, nein, nicht noch die Augenbrauen in seine Assoziationskette aufnehmen. Jetzt nicht grübeln, ob Frauen ihre Augenbrauen heute auffälliger markierten, bemalten, schmückten oder er diesen Körperteil zwischen Stirn und Augen bloß erst jetzt wahrgenommen hatte. Schluss, sofort, Schluss. Es ging um den Schuss.
Dieser Ort war ideal, an der Ecke hinter dem Pavillon wäre es gut möglich, dass aus zwei unterschiedlichen Richtungen zwei geübte Menschen aus zwei Winkeln kurz und zufällig fast gleichzeitig mit Schalldämpfern auf ihr Zielobjekt schossen. Bertram überlegte, dass dieser Mann, aber warum nur Mann? Eine Frau konnte er sich einfach nicht so vertrottelt ausmalen. Also, er plante etwas mit drei Männern, von denen einer so in seinen Gedanken um die richtige Formulierung eines »Vorbringungsvorbehalts« versunken war, dass er den Schuss gar nicht bemerkte. Zumal der Wind ein paar Dezibel wegnahm und knackende Äste lauter als schalldämpferminimierte Schüsse wirkten. Dieser Mann würde sich ganz auf das Wort »Vorbringungsvorbehalt« konzentrieren, das er am Tag darauf im Ausschuss punktgenau und wirksam einbringen wollte, es zwei- oder dreimal an der richtigen Stelle erwähnen, sodass jeder der potentiell Fragenden (es würden nicht viele sein, es würde andere Themen an dem Tag geben, und wichtigere, viel wichtigere) keinen Widerspruch wagen würde.
Weiter im Plan, also die Schüsse, von links und von rechts – vom Opfer aus betrachtet – gleichzeitig und zufällig genau in diesem Moment …
»Mann, so was von antik hier, ich halte das nicht mehr aus … Alles so Schloss hier oder wie heißt das, Burg.«
Bertram hört die Stimme, laut und gut artikuliert, keinesfalls aggressiv, eher beeindruckt und sprechend, als ob er den oder die beeindrucken wollte. Am anderen Ende der Leitung, was das falsche Bild war, wirklicher Quatsch in der Zeit der Smartphones und der über Satelliten durch die Welt eilenden Wellen, die zwei Menschen akustisch vereinten.
Ein junger Mann saß auf einem der beiden Plätze der Wartebank. Die Straßenbahnhaltestelle Am Zwingerteich würde erst in fünfzehn Minuten wieder angefahren werden. Er redete viel in einem ziemlich guten Deutsch, Bertram würde später darüber nachdenken, ob diese Feststellung aufmerksamkeitssensibel oder herablassend war. Der junge Mann kam aus Syrien und war erst seit wenigen Monaten in Dresden. Sagte er in das Telefon. »Das ist nicht schön, das ist so alt und steht so angeberisch rum. Dresden ist angeberisch, ich komme zu dir, Werdohl, Ruhrgebiet, klingt gut, … Sauerland? Wachsen da Zitronen? … Ach so, alles in NRW, Hauptsache kein Dresden.« Er veränderte wegen dem älteren Mann neben ihm nicht seine Sprechhaltung. Auch nicht die Stimme. Wahrscheinlich hatte er sich diesen immerhin überdachten, im Dunkeln wirklich einsamen Ort sehr bewusst für ein längeres Gespräch ausgesucht.Bertram wartete auch auf die Bahn, währenddessen wollte er seinen Plot für den Mordversuch beenden, er zückte jetzt sein Blackberry, um zu signalisieren, dass auch er mit etwas beschäftigt war. Und nicht einfach nur mithörte. Das Finale durchdenken, auskosten, er war kurz davor. Die Grundbedingungen stimmten, beide Killer schlichen von unterschiedlichen Seiten heran, von verschiedenen Auftraggebern aus entgegensetzten Motiven beauftragt, im Dunkeln ist nicht nur gut munkeln, zwei Schüsse vereinen sich zum finalen Schuss, als sei dieser gut orchestriert und oft geplant worden. Das Unwahrscheinliche ist oft das praktisch Plausibelste. Das war doch ein echt origineller Gedanke, den kannte er noch aus keinem Krimi. Wirklich? Er müsste mal mit einem der vielen Autoren reden, die sich hier durch ihr Leben schrieben. Und Dresden in der Summe zu einem Textberg verhalfen, der es in sich hatte. Die Bedeutung einer Stadt daran messen, wie viele Bücher in ihr oder über sie geschrieben werden? Für Berlin werden die Stadtteile getrennt gewertet, wegen der Vergleichbarkeit – verdammt, schon wieder verhedderte er sich in seinen Ideen. Schnitt, doppelter Mordversuch. Parallel. Nur ein Problem: Warum trafen die beiden nicht, die den Landesbeauftragten töten sollten und auch abdrückten.
Die Stimme des Flüchtlings aus Syrien riss Bertram aus seinen Planungen für das Skript und einen realen Drehort, der plausibel wäre. Ein Filmautor heutzutage sollte schon auch ein Location-Scout sein. Wie war Dresden richtig Dresden, auch wenn man nichts von der Stadt sah? Die Interaktionen zwischen den Männern mussten den speziellen DS (Dresden-Spirit) tragen. Ihn störten immer wieder die Sätze des jungen Mannes, der eher eine Location für sein Leben suchte, die irgendwie das Gegenteil von Dresden sein sollte.
»Mann, was soll ich sagen, Dresden ist so wie … alles wie Brandenburger Tor, Berlin, kennst du? So altes Zeug wartet, um zerstört zu werden … «
Die Bahn näherte sich wie immer schnell und lautlos. Bertram verabschiedete sich mit „Auf Wiedersehen«, der andere nickte zurück, blieb sitzen und ließ sich am anderen Ende der Leitung erklären, was Werdohl zu bieten hatte. Bertram stieg in die, wie zu dieser Zeit immer, leere Bahn ein und erinnerte sich plötzlich an seinen einzigen Besuch in Werdohl, dem kleinen Ort in NRW. Er war versehentlich einen Tag zu früh angekommen. Und erlebte in der Stadthalle eine Veranstaltung zum Jubiläum der Stadt, die eingequetscht zwischen wichtigeren Städten auf eine komische Art beeindruckte. Er vermochte sich an kein Bild von der Stadt, dem Hotel oder der Lesung am Folgetag zu erinnern, aber ein Gedanke spülte aus dem Unterbewussten sofort wieder nach oben. Einer, der ihn nie wieder verlassen hatte: So langweilig kann der Westen sein. Es hatte 1990 etwas zutiefst Befriedigendes, durch austauschbar wirkende Weststädte zu laufen und sich zu sagen: Ist nicht wirklich schlimm hier, aber der Osten braucht keine Komplexe zu haben.
Gleich würde die Bahn am Albertplatz stoppen, es hieß, Richtung Klotzsche umzusteigen. Ruckartig bückte sich Bertram und knotete seinen rechten Schuh zu, dessen Schnürsenkelenden wieder einmal die Vereinigungsverweigerung praktizierten. Diese Geste vollbrachte er zügiger als geplant, sicher um den Ausstieg nicht zu verpassen. Als er kurz darauf aus der Straßenbahn trat, nahm er die Maske kurz ab. Mit dem frischen Wind kam die Idee.
Dieses geplante Opfer würde keines werden, es bückte sich sekundenbruchteilsschnell (ein Adjektiv zum Merken) vor den beiden Schüssen zu seinem Schuh, um flugs die Schnürsenkel zu verknoten. Viel behender als er sich das zugetraut hätte. Er würde so glücklich sein, diese nicht ganz einfache Sache im Dunkeln störungsfrei erledigt zu haben, dass die beiden schalldämpferminimierten Schussgeräusche kaum und das Eindringen in die beiden Körper gar nicht hörbar sein würden, der in dieser Hinsicht selbst schallschluckend wirkte. Solange nicht ein Metallteil den Weg zum Herzen oder Hirn oder dem Körperorgan fand, was einen sofortigen Tod garantierte. Zu sehr ins medizinische Detail musste er sich nicht begeben. Künstlerische Freiheit.
Beide Auftragsmörder würden sich gegenseitig erschießen, was noch zu manchen Mutmaßungen Anlass geben würde, Der eigentlich mit beiden Geschossen Gemeinte würde für die Polizei keine Spuren hinterlassen, er würde für die Ermittler gar nicht vorhanden sein. Bertram würde von den beiden Toten in der Zeitung lesen. Und überlegen, ob das nicht passiert war, als er seine Bahn mehr gesehen als vernommen hatte und losgesprintet war. Er stand nicht gern im Dunkeln an menschenleeren Haltestellen herum, diese Stadt Dresden war eine des Lichts und der gut inszenierten Beleuchtung, des weichen angenehmen Klanges, ja, der Schönheit. Und ewig einem zuhören, der einen geschickten Umsiedlungsflirt betrieb, kam ihm unanständig, auf Dauer langweilig vor. Woran glaubte er eigentlich zu merken, dass der mit einer Sie sprach? Bertram hörte keine andere Stimme, darüber auch noch einmal nachdenken – beauftragte er sich …
Die eine Leiche hatte er nicht bemerkt und die andere auch nicht. Er überschritt etwas, was herumlag: ein Müllsack voller Laub, eine illegal entsorgte Puppe mit erotischen Handlungsmöglichkeiten oder irgendwas anderes. Jedenfalls nichts, was lebte. Wer kann im Dunkeln schon all die Dinge betrachten, die ohnehin kaum zu sehen sind, wenn die Bahn nicht lange hält und – falls niemand an der Haltestelle steht zu dieser Zeit – durchfährt. Da hatte der in letzter Sekunde die Bahn erreichende Landesbeauftragte ja recht.
Die beiden Leichen würden erst im Hellen gefunden und begutachtet werden, im ersten Moment würde ein aufgeschlossener innovativer Ermittlungsbeamter auf einvernehmlichen gegenseitigen Suizid tippen. Während die erste medizinische Assistenzkraft vor Ort erst einmal die Vorgesetzten fragen würde, ob frischen Leichen auch noch eine Maske aufzusetzen sei, obwohl die ja nicht mehr atmeten.
Bertram zeigte sich so enthusiasmiert über diese brillante und fortsetzungstaugliche Variante, dass er beschloss, sich einen Dürüm zu gönnen. Etwas anderes als der um seine abgesperrten Sitzflächen im Inneren reduzierte Dönerladen am Albertplatz hatte zu dieser Zeit hier sowieso nicht mehr geöffnet. Der bot allerdings einen Kosmos an Speisemöglichkeiten, für Bertram gehörte klar der indviduell unterschiedlich bestückte Dürüm ins Zentrum des Döner-Universums. Für ihn mehr Salat, keine Soße – es machte schon Spaß, das präzise Zubereitungsballett von drei bis vier Mitarbeitern auf engem Raum zu betrachten.
Bertram überquerte die Gleise und freute sich, gleich wieder ein Gespräch mitzuhören, dessen Gesamtsinn er meist nicht verstand, aber dessen Details sehr interessant waren und die er mitunter noch die gesamte Straßenbahnfahrt danach zu entschlüsseln versuchte.
ALS
Wir danken Ihnen für das Gespräch und die Einblicke in Ihre widersprüchliche Persönlichkeit. Ich glaube, dass Ihr widersprüchliches Leben genau die deutsch-deutsche Befindlichkeit widerspiegelt.
Die wichtigste Lehre des heutigen Abends für mich ist, dass gar nicht alles gleich sein muss. Das wäre unendlich langweilig. Stattdessen sollten wir uns lieber auf die Vielheit in der Einheit besinnen und auch darauf, dass Diversität nichts Trennendes ist, sondern etwas Verbindendes und Bereicherndes.
Deshalb mein Schlusswort: Es lebe die Differenz, oder, um es mit Ihren eigenen Worten zu sagen: „Überwinden wir die Teilung, indem wir sie fortsetzen!“

Die literarischen Zitate stammen vorwiegend aus Lutz Rathenow „Trotzig lächeln und das Weltall streicheln. Mein Leben in Geschichten.“, Kanon Verlag, Berlin, 2022 und „Früher ist morgen. Einhundertelf Gedichte“, Verlag Ralf Liebe, Weilerswist, 2025.
Porträtfoto (c) Harald Wenzel-Orf
Adrian La Salvia
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